Stefan Hertmans über seinen Roman "Die Fremde."

Ein Flüchtlingsschicksal - vor 1000 Jahren

"Ich dachte, ich schreibe eine alte Geschichte, aber ich schreibe über das 21. Jahrhundert", sagt Stefan Hertmans auf domradio.de. "Es hat sich nichts geändert – es gibt Religionskriege, Fanatismus, man hasst das Fremde". In seinem historischen Roman "Die Fremde" erzählt Hertmans von einem Leben auf der Flucht - eine zeitlose Erfahrung.

Stefan Hertmans / © Michiel Hendryckx
Stefan Hertmans / © Michiel Hendryckx

Der belgische Autor niederländischer Sprache taucht tief in die Welt des Mittelalters ein. Vor tausend Jahren gab es in Europa Kreuzzüge, Flüchtlingsströme und Chaos. Hertmans verfolgt die Geschichte einer jungen Frau, Vigidis heißt sie, sie lebt in Frankreich und stammt aus wohlhabendem christlichen Haus. Doch sie verliebt sich in den Sohn eines Rabbiners, sie flieht mit dem Geliebten und wechselt zum jüdischen Glauben: "Zu Fuß flieht sie mit ihm – 900 Kilometer durch Frankreich", erzählt Hertmans. In der Stadt seiner Eltern heiraten sie. Aber der Vater der jungen Frau schickt ihnen Ritter hinterher, die sie zurückbringen sollen.

Ein Roman aufgrund einer wahren Begebenheit

Das Ehepaar flieht erneut und findet Unterschlupf in dem kleinen Bergdorf Monieux. In diesem Dorf verbringt Stefan Hertmans schon seit vielen Jahren seine Urlaubszeit. Er hat dort ein kleines Haus gekauft, und dort ist er auch auf die Geschichte der Frau gestoßen – auf Dokumente, die in einer Synagoge in Kairo gefunden wurden. Da geht es um die Flucht einer Konvertitin aus Monieux. "Dann habe ich gedacht, diese Frau hat nur hundert Meter von meinem Haus gewohnt, dort, wo ich so glücklich bin, hier ist das alles passiert. In den Felsen habe ich dann auch Spuren gefunden – Überreste einer uralten Mikwe, eines jüdischen Bades." Auch von der Spurensuche erzählt der Autor in seinem packenden Buch. Er behauptet dabei nicht, dass seine Version der Geschichte ganz genau so geschehen ist, aber es sei doch sehr wahrscheinlich, sagt er.

Kreuzzüge und Pogrome im 11. Jahrhundert

Zunächst lebt das junge Ehepaar friedlich in dem französischen Bergdorf. Sie bekommen drei Kinder. Doch dann nähert sich wie ein Donnergrollen der Kreuzzug dem Dorf. Kreuzritter verwüsten die Idylle und richten unter den Juden ein furchtbares Massaker an. Der jüdische Ehemann der Frau wird brutal ermordet, zwei ihrer Kinder verschleppt. Sie sucht ihre Kinder, flieht aus dem Dorf, flieht vor den Kreuzrittern - über das Mittelmeer bis nach Kairo. "Sie war ein Boatpeople", sagt Hertmans. "Sie ist vor den fundamentalistischen Kreuzrittern geflohen und hat in Alt-Kairo Schutz gefunden - in der jüdischen Gemeinde, die unter den moderaten Muslimen friedlich existieren konnte". Dort heiratet die Frau erneut, bekommt ein Kind, doch sie macht sich wieder auf, kehrt nach Frankreich zurück, wird in Nordspanien als Hexe angeklagt und kann nur mit knapper Not dem Scheiterhaufen entkommen.

Als hätte sich kaum etwas verändert.

Stefan Hertmans erzählt in seinem Roman das Schicksal einer unbekannten Frau, die nicht in den Geschichtsbüchern auftaucht, deren Schicksal aber eine ganze Epoche lebendig werden läßt. Der Autor vergegenwärtigt die Geschichte einer Flucht zur Zeit der Kreuzzüge. Sein Roman ist so aktuell, dass es schon fast Angst macht. Intoleranz, religiöser Fanatismus, die Suche nach Identität, die Flüchtlingskrise. Tausend Jahre und es scheint, als hätte sich kaum etwas verändert. "Abends schalten wir das Fernsehen ein und sehen genau dasselbe", sagt Hertmans. "Man sieht wieder Flüchtlinge, man sieht Radikalismus und Hass. Man sieht, wie Angst vor dem Fremden geschürt wird und erlebt Politiker, die die Menschen gegeneinander aufhetzen. Dieser Radikalismus kommt von innen aus dem Volk und nicht von außen".


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