Peter Stamm fragt: Wer erzählt mein Leben?

"Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt"

"Die großen Fragen werden einen immer begleiten. Das sind Fragen, die man immer wieder neu und immer wieder anders beantwortet", sagt Peter Stamm gegenüber Domradio.de. Das neue Buch des Schweizer Bestsellerautors heißt: "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt". Ein Gespräch über Erinnerung, Vergänglichkeit und die Frage: Wer erzählt mein Leben?

Peter Stamm / © Gaby Gerster
Peter Stamm / © Gaby Gerster

Gestalte ich mein Leben, oder ist es mir zugestoßen? Bin ich derselbe, als der ich geboren wurde, oder bin ich die Summe von all dem, was ich erlebt und getan habe? In seinem neuen Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" fragt Peter Stamm nach den Bildern, die wir und andere von uns haben. Sein Romanheld Christoph begegnet einem jungen Mann, der ihm bis aufs Haar gleicht, er erschrickt und versucht sich vor dem Doppelgänger zu verstecken. Doch dann trifft er eine junge Frau, die mit seiner einstigen Geliebten identisch zu sein scheint.

"Doppelgänger gibt es natürlich nicht", sagt Peter Stamm, "und doch begegnen wir immer wieder Bildern, die wir und andere von uns machen". Als sein Erfolgsroman "Agnes" verfilmt worden sei, sei er der jungen Schauspielerin begegnet, die die Hauptrolle gespielt habe. So sei er auf einmal seiner Romanfigur gegenübergestanden und habe festgestellt, dass es da Unterschiede gegeben habe. Das Gespräch mit der Schauspielerin, der Doppelgängerin seiner Romanfigur, sei ein Auslöser gewesen, den Roman zu schreiben.

Ein Roman zu Facebook

"Im Grunde ist der Roman auch ein Buch zu Facebook", sagt Peter Stamm. Denn in den sozialen Medien wie Facebook werden wir mit ungezählten Bildern und ungezählten Wahrheiten konfrontiert – aber was ist wahr?, fragt der Autor. Was ist Fake? Was ist gefühlte Wahrheit? Wenn wir uns zum Beispiel erinnern, dann sind unsere Erinnerungen immer auch persönlich eingefärbt. "Selbst in Familien erzählt man sich die eigenen Geschichten immer wieder und erinnert sich an alte Zeiten", sagt der Autor. "Und weil jeder natürlich verschiedene Erinnerungen hat, versucht man das dann in Einklang zu bringen. Das hat etwas Spielerisches und auch etwas Existentielles, denn diese Erinnerungen machen uns ja aus". Peter Stamms Romanheld Christoph begegnet seiner Vergangenheit und den Bildern, die er von seiner Vergangenheit hat. Er beginnt der Doppelgängerin seiner einstigen großen Liebe seine und damit auch ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Was ist, wenn wir gestorben sind?

Dabei geht es nicht nur um die Frage, wer erzählt mein Leben und wie bin ich der geworden, für den ich mich halte? Es geht auch um Vergänglichkeit und Tod, um die "Gleichgültigkeit der Welt", der man sich stellen muss, spätestens wenn man stirbt und zu verschwinden droht. Peter Stamm greift hier ein Zitat aus dem Roman "Der Fremde" von Albert Camus auf. Da gelingt es dem Romanhelden am Ende, die Gleichgültigkeit der Welt gelassener zu sehen, indem er ihr gegenüber eine gewisse Sanftheit empfindet. "Und während ich zurück nach Hause gehe", so beschreibt es Peter Stamm in seinem Roman, "stelle ich mir vor, von allem befreit dem Leben zu entkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen. (...) Ich denke an mein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat, unscharfe Bilder, Figuren im Gegenlicht, entfernte Stimmen. Seltsam ist, dass mir diese Vorstellung schon damals nicht traurig vorkam, sondern angemessen und von einer klaren Schönheit und Richtigkeit wie dieser Wintermorgen vor langer Zeit.“


Quelle:
DR