Michael Braun über den religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur

"Probebohrungen im Himmel"

Lange Zeit kamen Gott und Glaube in der Literatur kaum vor. Der Blick der Dichter richtete sich in die Tiefen des geschichtlichen Erdreichs – weniger aber in den Himmel. Das habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren geändert, sagt Literaturprofessor Michael Braun. "Probebohrungen im Himmel", heißt sein Buch. Dazu exklusiv für DOMRADIO.DE seine Top Ten der religiös musikalischen Literatur.

Prof. Michael Braun / © Irina Hron-Öberg (privat)
Prof. Michael Braun / © Irina Hron-Öberg ( privat )

Das Bankgeheimnis und Gott seien die größten Geheimnisse unserer Zeit, hat der Büchnerpreisträger Arnold Stadler vor Jahren gesagt, und es sei peinlicher, wenn eine Gastgeberin ein Tischgebet sprechen als wenn sie einen Striptease machen würde. Der Literaturprofessor Michael Braun zitiert Arnold Stadler gern, weil das Bonmot des Autors deutlich macht, wie sehr religiöse Themen auch in der Literatur lange Zeit tabuisiert wurden. Das hat sich aber geändert, ist Professor Braun überzeugt. Die Literatur sei in den vergangenen zwanzig Jahren ´religiös musikalischer´ geworden. "Immer mehr Autoren fällt etwas zu diesem Thema ein", sagt er und belegt es in seinem Buch "Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur". Das zunehmende Interesse der Autoren an Religion habe auch mit dem Kulturschock 9/11 zu tun, ist Braun überzeugt: "Die Autoren haben alle in der ein oder anderen Form auf 9/11 reagiert. Es ist aber nicht nur die Auseinandersetzung mit der abendländischen Religion, mit dem monotheistischen Christentum, sondern vor allem auch die Auseinandersetzung mit anderen Religionen. Gerade hier in Köln haben wir mit Navid Kermani einen Autor, der sich stark für den Dialog mit dem Islam einsetzt und zwar nicht unbedingt von christlicher Seite aus", sagt Braun.

Ein Perspektivwechsel in der Literatur

Der Literaturprofessor hat sein Buch über die religiösen Trends in der Gegenwartsliteratur "Probebohrungen im Himmel" genannt. Diese Zeile hat er von dem Lyriker Jan Wagner übernommen. "Probebohrungen im Himmel" könnte man als Versuche der Dichter verstehen, nicht in die Tiefen des geschichtlichen Erdreiches zu gehen, sondern in die Höhe der Metaphysik, der Religion, in einen Himmel, der entgöttert ist, aber offensichtlich noch ein wichtiger Gegenstand für dichterische Betätigung". Professor Braun geht soweit zu sagen, dass es in der Literatur einen Perspektivwechsel gegeben habe. Nach der Aufklärung sei der Himmel entgöttert gewesen und die metaphysischen Antennen hätten ins Leere gezappelt. "Die Scheinwerfer haben die Horizontalen ausgeleuchtet", sagt Braun, "die Dichter und Lyriker, wie zum Beispiel Jan Wagner, kehren jetzt den Blick nach oben. Das heißt eben auch, den Blick umzukehren".

Religiös musikalische Literatur als Chance für die Kirchen

Literatur bringe so das zusätzliche metaphysische Moment ein, das in unserer beschleunigten, digitalisierten Gesellschaft häufig fehle, sagt der Literaturprofessor. Bestimmte Autoren nun aber als christliche oder gar katholische Dichter zu bezeichnen, lehnt er ab. "Die Religion in der Literatur bedarf der Kirche nicht und bedarf auch der Konfession und der Dogmen nicht. Aber natürlich hat sich die Kirche als Institution auch der Literatur angepasst. Kirchen sind Kulturorte geworden. Es gibt Dichter, die auf der Kanzel predigen, und es gibt eine stattliche Reihe zum Beispiel von Priesterromanen, die sich auch mit der Rolle von kirchlichen Vertretern auseinandersetzen". Wenn Religion immer häufiger in der zeitgenössischen Literatur auftauche, sei das auch eine große Chance für die Kirchen, ist Professor Braun überzeugt. "Die religiös musikalische Literatur erreicht Leser, die ansonsten nicht viel mit Kirche und Religion am Hut haben".

Für DOMRADIO.DE hat Professsor Michael Braun seine Top Ten der religiös musikalischen Literatur zusammengestellt

"Ein Kanon schafft Ordnung, setzt Maßstäbe, gibt Empfehlungen, bedarf ständiger Nachprüfung und Revision. Jürgen Habermas hat in seiner Paulskirchenrede 2001, mit Rekurs auf Max Weber, unsere Aufmerksamkeit wieder auf die religiöse Musikalität in der Literatur gelenkt. Der folgende Katalog von Romanen, Novellen und einem Gedicht ist kein Dekalog, aber eine Orientierung für das, was es (nicht nur) im kirchlich-religiös-theologischen Horizont zu lesen lohnt".

1. Patrick Roth: Das Buch Joseph. Roman (2006)

2. Hilde Domin: Abel steh auf (in: Gesammelte Gedichte, 1987)

3. Peter Esterházy: Das Markusversion. Roman (2016)

4. Michael Köhlmeier: Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle (2018)

5. Felicitas Hoppe: Johanna. Roman (2006)

6. Günter Grass: Die Blechtrommel. Roman (1959)

7. Stefan Andres: El Greco malt den Großinquisitor. Novelle (1936)

8. Thomas Mann: Gladius Dei. Novelle (1902)

9. Petra Morsbach: Gottesdiener. Roman (2004)

10. Marica Bodrožić: „Die Wahrheit kann niemand verbrennen.“ Über die Blickrichtung der Liebe bei Mechthild von Magdeburg. Essay (2018)


Quelle:
DR