Lukas Bärfuss über seinen Roman "Hagard"

Dunkles Begehren und Heilige Hingabe

"Wenn einem alles fehlt, was uns im Alltag behütet – das Geld, das Telefon, die Schuhe, dann empfindet man eine ganz andere Aufmerksamkeit für seine Umgebung", sagt Lukas Bärfuss. In seinem Buch "Hagard" folgt der Romanheld einer Frau. Er verliert sich in seiner Hingabe und opfert sein bisheriges Leben.

Lukas Bärfuss / © Frederic Meyer (Wallstein)
Lukas Bärfuss / © Frederic Meyer ( Wallstein )

"´Hagard´ ist ein Wildfang", erklärt der Schweizer Autor Bärfuss, "´Hagard´ beschreibt einen Vogel, den man nicht mit der Hand aufgezogen und danach zur Jagd abgerichtet hat, sondern in der freien Wildbahn gefangen hat. Diese Vögel sind sehr tüchtig bei der Jagd, weil sie es instinktiv gelernt haben, und gleichzeitig sind sie das, was man ´faustscheu´ nennt, das heißt sie fliegen sehr oft nicht zurück zum Falkner, sondern verschwinden in der Wildnis, woher sie kamen". Der Mensch als ´Wildfang´, auch ihn hat die Zivilisation domestiziert, aber auch in ihm schlummert das ursprünglich Unberechenbare.

"In allen Dingen muss ein Geheimnis bleiben, das uns zum Sehen bringt. Was wir verstanden haben, ist verloren", schreibt Lukas Bärfuss in seinem Roman. In ´Hagard´ geht es um einen Mann, der alles verliert, der sich sogar selbst verliert - und das innerhalb eines Tages. Philip, so heißt der Mann, folgt einer Frau, zunächst spielerisch, er fühlt sich von ihr angezogen und will einfach mal schauen, wohin sie geht. Aber aus dem Spiel wird eine Obsession, eine Leidenschaft, eine fast schon heilig zu nennender Hingabe. "Ich habe seit langer Zeit eine große Faszination für das Leben der Heiligen, für Theresa von Avila oder Johannes vom Kreuz", sagt Lukas Bärfuss im domradio.de Interview, "das sind Menschen, die etwas ganz unbedingt verfolgt haben, und dieses Unbedingte hat natürlich auch einen künstlerischen Gestus, denn wenn man schreibt, sucht man natürlich die totale Verführung".

Wir werden geliebt und wir werden gelacht

Der Mann, von dem Bärfuss erzählt, läßt sein Leben hinter sich. Er folgt einer Frau und verliert seine Habe, seinen Schuh, sein Auto, sein Geld – schließlich auch sein Smartphone, das er nicht mehr aufladen kann. "Ich bin nicht sicher, ob er nur verliert?", fragt Bärfuss, "er gewinnt auch etwas. Er gewinnt eine sehr hohe Sensibilität und eine Aufmerksamkeit für den Augenblick, einfach deshalb weil er so ausgesetzt ist, und weil er so verletzlich wird, weil ihm all die Dinge fehlen, die uns normalerweise im Alltag behüten". Der Verlust des funktionstüchtigen Smartphones zwingt den Mann auch dazu, mit den Menschen zu sprechen, um die Zeit, den Weg zu erfahren und um ihre Hilfe zu erbitten.

Getrieben wird er von der Liebe zu einer Frau, die er gar nicht kennt, deren Gesicht er nicht einmal gesehen hat, der er aber immer obsessiver folgt. Nur die Kraft der Liebe lasse uns so außer Rand und Band geraten, sagt der Autor, "weil in der Liebe die Ansprüche und Erwartungen, die man hat, zusammentreffen mit etwas ganz innerem Empfundenen, was sich häufig gar nicht in Worte fassen läßt, was man gar nicht formulieren kann, was man vom Anderen wünscht. Es ist doch auch etwas ganz merkwürdiges, daß wir kaum zu entscheiden in der Lage sind, uns in jemanden zu verlieben. Das ist wie beim Humor, das entzieht sich unserer rationalen Beurteilung, wir lachen und wir lieben, oder wir werden gelacht und wir werden geliebt".

"Der Glaube war verloren gegangen"

Lukas Bärfuss hat einen Roman geschrieben, der an die existentiellen Grundfesten des Menschseins rüttelt. Sein Held gerät außer Kontrolle, er verliert alles, weil er tief empfindet, wie es sonst nur Heilige tun, die dem Ruf Gottes folgen und alles hinter sich lassen.

Und in "Hagard" geht es auch um ein Lebensgefühl, das für eine große Verunsicherung steht, in der wir heute leben. "Der Glaube war verloren gegangen, dass jemand die Zeitläufte nach seinem Willen bestimmte", schreibt Bärfuss. "Selbst die Mächtigen wirkten hilflos und schwach. Alles schien zufällig und willkürlich, und obwohl das Leben seinen gewohnten Gang nahm, fühlte man sich von einem Feind umgeben, der nur selten ein Gesicht bekam".