Gert Loschütz über seinen Roman ‘Besichtigung eines Unglücks’

Alles nur sinnlos und Zufall?

1939 ereignet sich in Genthin das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland. In ‘Besichtigung eines Unglücks’ rekonstruiert der Autor Gert Loschütz die Ereignisse jener Nacht und entwickelt daraus ein Netz von Geschichten bis in die eigene Biografie hinein.

Gert Loschütz / © Bogenberger/autorenfotos.com (Schöffling)
Gert Loschütz / © Bogenberger/autorenfotos.com ( Schöffling )

Das schwerste Zugunglück der deutschen Geschichte ist nahezu unbekannt. Es geschah im Dezember 1939, zwei Tage vor Heiligabend, als zwei Züge im Bahnhof von Genthin aufeinanderprallten und 200 Menschen dabei ums Leben kamen. Dass diese Katastrophe kaum wahrgenommen wurde und wird, hängt damit zusammen, dass zwei Monate vorher der Krieg begonnen hatte, erzählt Autor Gert Loschütz im DOMRADIO.DE Interview: “Dann zeigte sich, was für ein furchtbares Völkergemetzel das wurde. Dagegen verblaßt natürlich ein solches Unglück, das riesig ist für die Betroffenen”.

Wo fängt das Unglück an?

Katastrophen wie das Zugunglück von Genthin seien immer sinnlos. “Denn was kann man denn Sinnhaftes in einem so schrecklichen Unglück sehen?”, fragt der Autor. In seinem Roman versucht er über das Erzählen eine Ordnung in den katastrophalen Unfall zu bringen. Minutiös erzählt er von den Stunden, Minuten, Sekunden vor dem Unglück. Er fragt, was dazu geführt haben könnte, dass die Züge aufeinander prallten? “Wo ist hier etwas schiefgelaufen? Wo fängt das Unglück eigentlich an? Fängt das Unglück in dem Augenblick an, in dem einer der Lokführer das erste Signal überfährt? Oder fängt es nicht viel früher an. Der Lokführer zum Beispiel hat eigentlich nur Dienst gemacht, weil so viele Lokführer in die Wehrmacht abberufen wurden. Also wurde jemand, der eigentlich nicht sehr zuverlässig und gut ausgebildet war, in den Personenzugverkehr aufgenommen. Also könnte man sagen, eigentlich beginnt das Unglück mit dem Beginn des Krieges ein Vierteljahr vorher?", fragt Loschütz.

Das Entsetzliche durch das Erzählen bändigen

Mit der Schilderung der Abläufe vor dem Unglück, stellt Loschütz auch die Frage – wer diese Katastrophe verschuldet hat? Ob es überhaupt einen Schuldigen geben könnte? Oder war alles nur Zufall? War alles unkontrollierbares, monströses Schicksal? “Ich nehme an, dass das die Hoffnung ist, die hinter dem Erzählen steht, dass man die Dinge wenigstens begreift, warum sie geschehen sind”, vermutet der Autor. “Ich glaube, in dem Moment, in dem man diese Gedanken sortiert hat, indem man das in eine Handlung gebracht hat, in dem das nachvollziehbar wird, kann man zumindest nachträglich dieses Entsetzliche bändigen”.

Eine Liebesgeschichte?

Vielleicht kann das Erzählen einer Geschichte über das Unglück auch trösten, indem der Erzähler eine Ordnung in die Geschichte bringt, die Abläufe sortiert und diese nachträgliche Ordnung zu einem Gegenspieler des monströsen Zufalls wird. Gert Loschütz recherchiert, sortiert, ordnet - und erzählt. Dabei stößt er beim Erzählen über das Unglück auf andere, sehr merkwürdige Geschichten. Zum Beispiel die von Carla und Giuseppe, die in dem verunglückten Zug saßen. Loschütz hat ihre Namen auf den Passagierlisten gefunden. Carla und Guiseppe Buonomo. Sie lebt in Düsseldorf und ist mit Richard, einem Juden aus Neuss, verlobt. Guiseppe lebt in Neapel. Er ist unter den Todesopfern, sie hat überlebt und liegt im Krankenhaus. “Das ist doch seltsam”, wundert sich Loschütz und fragt sich, ob Carla die Tochter oder doch die Ehefrau ist? Warum lebt sie in Düsseldorf? Diese Fragen seien für ihn ein Grund gewesen, da genauer hinzugucken.

'Immer weiter' erzählen

Gert Loschütz findet Briefe und alte Dokumente, er versucht diese mögliche Liebesgeschichte zu rekonstruieren und stößt dabei auf immer neue mögliche Zusammenhänge. Der Autor ist selbst im Unglücksort Genthin geboren und plötzlich findet der Erzähler des Buches heraus, dass auch seine Mutter einen Bezug zur verunglückten Carla im Zug gehabt haben könnte. “Und so ergaben sich dann plötzlich solche Fäden und Handlungsstränge, so dass sich die Konstruktion des Romans fast von alleine ergeben hat. Es ging immer weiter”. Mit Begeisterung folgt man als Leser diesem ‘immer weiter’, das sich aus der Geschichte des Zugunglückes 1939 in Genthin entwickelt.

Warum uns Katastrophen faszinieren

Gert Loschütz vermutet, dass große Unglücke und Katastrophen für uns auch etwas merkwürdig Anziehendes haben könnten, weil es da Parallelen geben könnte zwischen dem Chaos, das so ein Unglück immer auslöst, und dem Chaos, aus dem wir Menschen selbst alle hervorgegangen sind. “Wir gucken mit Respekt darauf, mit Neugier, mit Angst”, sagt der Autor, “aber auch mit einer gewissen Faszination. Keiner wird das so zugeben. Aber ich denke, dass das im Hintergrund vielleicht der letzte Grund ist, warum wir uns mit diesen Dingen beschäftigen”.


Quelle:
DR