Jüdische Gemeinde zu Demo gegen Antisemitismus

"Wir brauchen die Solidarität der Gesellschaft"

60 Jahre nach dem Nazi-Regime fühlen sich viele deutsche Juden wieder bedroht. Am Sonntag findet in Berlin eine Demo gegen Antisemitismus statt. Günther Ginzel von der liberalen jüdischen Gemeinde freut sich über die Solidarität.

Demonstration: Pro Palästina - Anti Israel (dpa)
Demonstration: Pro Palästina - Anti Israel / ( dpa )

domradio.de: Wie nehmen Sie die momentane Bedrohung durch antisemitische Kreise wahr?

Günther Ginzel (Liberale jüdische Gemeinde Köln): Die Bedrohung ist vielfältig. Es gibt konkrete Bedrohungen, die glücklicherweise bislang von den Behörden aufgeklärt und abgefangen werden konnten. Im europäischen Ausland ist es zu Mordanschlägen gekommen und zu Toten. Hier in Deutschland artikuliert sich das vor allem in einer Flut von Hassbriefen. Man ist manchmal erschüttert, wie viele gestörte Leute offenbar in so einer Gesellschaft herumlaufen. Es gibt ein Gefühl der Unsicherheit. Wo stehen wir hier? Nicht nach dem Motto: Wir müssen jetzt auswandern, aber was ist hier los? Das ist eine Situation, die Nichtjuden so nicht kennen.

domradio.de: Warum suchen gerade junge Muslime unter den Juden den Sündenbock für alles? Sogar der Islamische Staat sei ein Komplott der Juden, so heißt es im Internet.

Ginzel: Das ist zum einen das große Problem, dass  Muslime oft nicht so selbstkritisch sind, so wie wir das als Christen und Juden gewohnt sind. Wenn wir uns mit unserem eigenen Glauben auseinandersetzen, dann denken wir auch immer über unser eigenes Versagen nach. Das ist eine, zumindest hier in Deutschland, nicht geübte Praxis und wir haben hier erschütternde Parallelen zum Rechtsextremismus. Das sind meistens junge Männer, die häufig gesellschaftlich und auch im Leben der Geschlechter zurückgeblieben sind, die einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt haben und nun im Rassismus und Antisemitismus plötzlich ein neues Selbstwertgefühl finden und vor allem immer Anderen die Schuld geben. Wir haben eine parallele Entwicklung in Teilen, das muss man deutlich sagen, in Teilen der muslimischen Jugend. Das ist ja nicht ganz generell so. Aber es gibt die Tendenz einer von der Religion vorgeprägten Stimmung, die durchaus auch antijüdisch interpretiert werden kann vom Koran her. Und darauf aufbauend nun den eigenen Minderwertigkeitskomplex, die Tatsache, dass der Anteil derer, die keinen Schulabschluss haben, derer, die aus bildungsfernen Milieus kommen und sich nicht auf den Hosenboden setzen und arbeiten, um was zu erreichen, sondern lieber auf Extremisten hören und sagen: Das sind die Bösen, die sind schuld, die waren schon immer schuld. Und indem wir uns dagegen wehren, entwickeln wir ein neues Selbstwertgefühl. Das ist ungemein verführerisch und gefährlich,  weil es natürlich nicht beim Antijüdischen stehen bleibt.

domradio.de: Ein weiterer Kreis, der Probleme mit Juden hat, ist die extreme Linke in Deutschland. Warum?

Ginzel: Auch hier haben wir eine ähnliche Situation. Seitdem es den Sozialismus gibt, gibt es dort auch eine Verknüpfung von Antikapitalismus und Antisemitismus. Dies hat sich dann vor allem in den osteuropäischen kommunistischen Ländern zur Zeit des Kalten Krieges und schon vorher verfestigt, indem die kommunistischen Regierungen von Russland über Polen bis Rumänien und auch in die Ukraine hinein, den Antisemitismus nutzten, um vom Versagen der eigenen Regierungen abzulenken. Gleichzeitig haben wir auch in der extremen Linken Einstellungen, die vom Weltbild wiederum doch sehr an den Faschismus erinnern. Diese Eindimensionalität, diese Radikalität – das bricht sich dann oft am Antijüdischen. Irgendjemand muss doch daran schuld sein, dass diese Welt so mies ist. Dann sind das die bösen Amerikaner, die sind es natürlich in jedem Fall. Aber dahinter steckt immer irgendetwas Ominöses. Das ist ein Zeichen von eigener Schwäche des Weltbildes, dass man Feindbilder so dringend braucht.

domradio.de: Am Sonntag wird gegen Antijudaismus unter dem Motto „Aufstehen gegen Antisemitismus“  demonstriert. Es sind auch viele Spitzenpolitiker dabei, auch Kanzlerin Merkel. Was bleibt Juden in Deutschland übrig? Wie können sie ihren Glauben in Deutschland überhaupt leben?

Ginzel: Indem man es tatsächlich lebt. Es ist ja nicht so, als wenn man als Jude auf die Straße geht und dann ist man plötzlich umringt von Antisemiten. Das wäre ein völlig falsches Bild. Viele Juden erleben dies im alltäglichen Leben nicht, aber sie hören von vielen Anderen, die Bemerkungen mitbekommen haben, wo in der Schule plötzlich gemobbt wird. Hier ist es einfach notwendig, miteinander zu leben, miteinander zu sprechen. Und man bedarf natürlich auch der Solidarität der nichtjüdischen Gesellschaft. Daher finde ich es hoch bemerkenswert, dass die Spitze der Bundesrepublik Deutschland an dieser Kundgebung gegen Antisemitismus teilnimmt und offen Flagge zeigt. Das geht ja auch weiter, es gibt ja nicht wenige Kirchengemeinden, ich denke an Briefe des Stadtsuperintendenten in Köln, ich denke an Schreiben des Präsidenten des Zentralkomitees der Katholiken an alle jüdischen Gemeinden, in dem Solidarität bekundet wurde. Und das ist insofern spannend, als vor dem Hintergrund von 2000 Jahren auch christlich motivierter Judenfeindschaft, wir jetzt als Juden in Kirchen und Christen Bündnispartner. Geschwister, die uns nicht alleine lassen. Auch das muss man angesichts der durchaus vorhandenen Bedrohung aus antisemitischer Richtung würdigen und das ist für mich ein Zeichen der Hoffnung.

 

Das Interview führte Christian Schlegel


Quelle:
DR