Ein Kommentar von Ingo Brüggenjürgen

Wir haben verstanden?

Um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ist heftiger Streit entbrannt. Verlierer ist wieder einmal die Kirche, meint domradio.de-Chefredakteur Ingo Brüggenjürgen.

Ingo Brüggenjürgen / © Ide Lödige (DR)
Ingo Brüggenjürgen / © Ide Lödige ( DR )

Wenn der ein oder andere Kirchenmann die Welt nicht mehr versteht, muss das keine Katastrophe sein. Wenn aber kirchliche Entscheidungsträger die Wirkungsmechanismen der Informations- und Medienwelt nur unzureichend verstehen, ist das für ein Unternehmen, welches in erster Linie eine "Frohe Botschaft" verkünden möchte, mehr als problematisch.

Man kann jetzt lange darüber streiten, wo die Gründe für das Scheitern des Forschungsprojektes zum sexuellen Missbrauch durch Priester liegen. Selbst interessierte Beobachter aber wenden sich ab, jetzt, wo nach dem Scheitern einer erfolgreich gestarteten vertrauensvollen Zusammenarbeit der Schuldige gesucht und schmutzige Wäsche gewaschen wird. Das ist wie bei Ehepaaren, die sich im Scheidungskrieg befinden – Pfui Teufel!

Ob nun der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen Christian Pfeiffer der Kirche Zensur und Aktenvernichtung vorwirft – oder diese dem ehemaligen Innenminister Selbstgerechtigkeit und Datenmissbrauch unterstellt. Das einmal dagewesene Vertrauen ist restlos aufgebraucht und in der öffentlichen Wahrnehmung bleibt hängen: Die Kirche will in Sachen Missbrauch doch nicht ganz reinen Tisch machen. Gerade für die Opfer ist das ein verheerendes Signal. Da hilft es leider auch wenig, wenn die Kirchenmänner mit Nachdruck betonen, man wolle doch weiter aufklären und suche nur einen neuen Projektpartner.

Transparenz und Offenheit

Die Gesetze der Informations- und Medienwelt regeln Wahrheitsfindung heute einfach anders. Früher konnte man vielleicht Bücher "genehmigen" und dafür sorgen, dass diese nur mit päpstlicher "Imprimatur" wahr und lesenswert waren. Ein "Papst der Kriminologie und Medien" lässt sich heute nicht mehr den Mund verbieten. Das wussten auch die kirchlichen Auftraggeber, die damals doch eigens Prof. Pfeiffer auswählten, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Das war gewagt und mutig. Irgendwo in der schwierigen Detailarbeit zwischen Wissenschaft und Kirche, zwischen Datenschutz und Aufklärung, ist dann der Mut auf der Strecke geblieben. "Beide Seiten sind beschädigt!", stellte der zuständige Bischof Ackermann fest. Da hat er recht. Aber für die Kirche wiegt der Schaden weitaus schwerer. Es waren nicht die Bischöfe, sondern ein mutiger Jesuitenpater, der mit Unterstützung der Medien auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen den Stein ins Rollen brachte, der längst zum Missbrauchs-Mühlstein geworden war. Wer sich selber in einer selbst mitverschuldeten, riesengroßen Vertrauenskrise befindet, muss gerade auch den kritischen Geistern Vertrauen entgegenbringen. Zudem leben wissenschaftliche Ergebnisse davon, dass sie jedermann überprüfen kann. Hätten Pfeiffers wie auch immer geartete Forschungsergebnisse einen größeren Schaden bedeutet, als er jetzt entstanden ist?

Wenn einem Schiffbrüchigen das Wasser bis zum Halse steht, und wenn er das selbst herbeigerufene Rettungsfloß mit dem Hinweis auf den wenig vertrauenswürdigen Piratenkapitän dankend ablehnt, muss das nicht unbedingt Gottvertrauen sein …

Schonungslose Aufklärung braucht Mut und Vertrauen. In einer Informations- und Mediengesellschaft muss man darüber hinaus für Transparenz und Offenheit sorgen. Ja, man muss Macht aus den Händen geben, um überhaupt neues Vertrauen geschenkt zu bekommen. Politiker und Unternehmen, welche sich nach einem schmerzvollen Vertrauensverlust nicht schonungslos um Aufklärung bemühen, sind am Ende, ganz egal, ob sie selber "die Welt nicht mehr verstehen". Kirche bemüht sich in Sachen Aufklärung – aber leider nicht richtig erfolgreich, so empfindet das die Öffentlichkeit. Der Christ an der Basis hat das vielfach verstanden. Ihn schmerzt es, wenn seine Kirche in der Öffentlichkeit wieder einmal mehr mit Macht und Missbrauch in Verbindung gebracht wird, als mit Froher Botschaft. Gerade erst haben die Christen noch das altvertraute Adventslied gesungen: "Kündet allen in der Not, fasset Mut und habt Vertrauen – bald wird kommen unser Gott, herrlich werden wir ihn schauen." Hat man das Vertrauen, den Mut und die Hoffnung des gerade erst gefeierten Retters schon wieder aus den Augen verloren? Sein Wort an die Kinder Abrahams lautete: "Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!" (Joh 8,32).