Warum vielen Hinterbliebenen bei Selbsttötung die Worte fehlen

Einfach nur sprachlos

Selbsttötung ist noch immer ein Tabu. Jahrhundertelang wurde ein solcher Schritt als Sünde verurteilt. Diese Tradition wirkt sich bisweilen immer noch auf den Umgang mit Trauernden aus. Groß ist oft die Scham, vielleicht auch die Frage nach dem "Warum".

Autor/in:
Veronika Wawatschek
 (DR)

Als sie das Schulheft ihres Sohnes findet, sind die Bilder plötzlich wieder da. Erinnerungen an seine Kindheit, seine Jugend und an den Abschied in der Gerichtsmedizin. "Dort lag er, so friedlich und fast lächelnd", schreibt Brigitte im Onlineforum des bundesweiten Selbsthilfenetzwerks "Angehörige um Suizid" (AGUS). "Man hatte ihm einen weißen Kragen angezogen, um die Halsverletzungen zu verdecken. Er war so kalt", erinnert sie sich und beschreibt die unfassbare Traurigkeit, die Jahre danach wieder in ihr hochsteigt.



Brigitte ist eine von vielen Hinterbliebenen, die Trost bei AGUS sucht. Selbsttötung sei noch immer ein Tabu, heißt es auf der Website des in Bayreuth ansässigen Vereins. "Darüber spricht man nicht oder weiß dazu nichts zu sagen." Jahrhundertelang wurde ein solcher Schritt als Sünde verurteilt. Diese Tradition wirkt sich bisweilen immer noch auf den Umgang mit Trauernden aus. Das bestätigt Krisenberater Hans Doll. Der Sozialpädagoge leitet die Münchner Arche, eine vom Bezirk, der Stadt und den Kirchen unterstützte Suizidpräventionsberatungsstelle.



Eine Form der Ächtung

Die Kirche vertrete heute zwar "Gott sei Dank" eine andere Sichtweise, sagt Doll. Nicht nur am 10. September, dem "Welttag der Suizidprävention" gedenkt sie in Gottesdiensten derer, die ihrem Leben ein Ende machten. In ihrem Erwachsenenkatechismus schreiben die deutschen Bischöfe, dass hinter einer Selbsttötung oft "ein verzweifelter Ruf nach Zuwendung durch die Mitmenschen" stecke. "Menschen, die selber keinen Ausweg mehr sehen, bedürfen unserer Hilfe", heißt es dort.



Und doch erlebten manche Angehörige noch immer "eine Form der Ächtung", berichtet der Krisenberater. Hinterbliebene erzählten ihm von Priestern, die einem "Selbstmörder" die Bestattung auf einem kirchlichen Friedhof verweigerten. Auch hat er Angehörige erlebt, die sich einen falschen Totenschein ausstellen ließen: Da stehe dann Herzinfarkt statt Suizid. Zu groß sei die Scham, vielleicht auch die Frage nach dem "Warum".



"Warum nur hast du das getan?", richtet sich Ani123 an ihren gestorbenen Vater im AGUS-Forum und zitiert ein Gedicht. "Es gibt Momente im Leben, da steht die Welt für einen Augenblick still". Damals sei sie stillgestanden, genau für den Moment, als er gesprungen ist, erzählt sie. "Hätte ich gewusst was du vorhast. Ich hätte mich vor das Auto geschmissen. Ich hätte dich nicht fahren lassen."



Viele Hinterbliebene fragten sich, ob sie nicht eine Mitschuld treffe, erläutert Doll. Zu Selbstvorwürfen und Schamgefühlen komme die Unsicherheit des Umfelds. Nachbarn, Kollegen, Freunde - viele Menschen seien mit dem Thema überfordert. "Wenn ein Kind erzählt, dass der Vater bei einem Unfall gestorben ist, reagieren die Leute anders, als wenn es sagt, dass sich der Vater umgebracht hat", erläutert er. Sie wüssten nicht, wie sie Trost spenden könnten. Dabei könne schon "sensibles Nachfragen" helfen.



Keine Randgruppenerscheinung

Denn Suizid ist keine "Randgruppenerscheinung", wie das Selbsthilfenetz AGUS feststellt. Jährlich nehmen sich etwa 10.000 Menschen in Deutschland das Leben - doppelt so viele, wie durch Verkehrsunfälle sterben. Das heißt, jedes Jahr müssen hierzulande schätzungsweise 80.000 Personen damit zurechtkommen, dass sich ein Mitmensch aus dem engeren Umfeld umgebracht hat.



Dennoch trauern viele allein. Nach den Erfahrungen bei AGUS ist der Trauerprozess nach einem Suizid in der Regel härter als bei gewöhnlichen Todesfällen. So treffe die landläufige Erwartung oft nicht zu, dass sich das Leben der Hinterbliebenen nach einem Jahr wieder normalisiert. Die Trauer kann nach Jahren genauso heftig wie direkt nach der Tat sein, wie es bei Brigitte der Fall war.