Pfarrer in Griechenland blickt auf den Besuch von Kanzlerin Merkel

Alltag mit sozialer Härte

Kanzlerin Merkel gilt bei vielen Griechen als Feindbild Nummer eins, das räumt der Leiter der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Athen, Pfarrer René Lammer, ein. Im domradio.de-Interview schildert er die Lage in seiner Gemeinde. Die Krise entzweie Familien, illegale Migranten lebten aus der nächsten Mülltonne.

 (DR)

domradio.de: Warum ist ausgerechnet die deutsche Kanzlerin so ein Feindbild in Griechenland?

Lammer: Es ist ja keine Frage, dass Deutschland die Europapolitik zurzeit dominiert, einfach durch die wirtschaftliche und politische Stärke, die es hat. Bei allen Forderungen, die hier von Seiten der Troika gestellt werden, spürt man doch sehr deutlich eine klare deutsche Handschrift. Klar, dass man nicht Italien, Spanien oder Frankreich auf den ersten Platz der Feindbilder gesetzt hat.



Wir haben unser 175-jähriges Jubiläum in dieser Woche als Kirchengemeinde. Wir sind also ganz eng als deutschsprachige Gemeinde mit der neueren Geschichte Griechenlands verknüpft. In diesem Zusammenhang haben wir immer mal wieder einen Bick in diese Geschichte geworfen: Die Zeit der deutschen Besatzung von 1941-1945 ist bei vielen Menschen, die heute noch leben präsent in der Erinnerung. Das darf man nicht vergessen.



Hier in Athen sind 1942 aufgrund von deutscher Besatzung 300.000 Menschen an Hunger gestorben. Einige der Menschen(, die diese Zeit miterlebt haben Anm. d. Red.,) leben noch, die anderen haben das weitererzählt an ihre Kinder und Enkel.



Wenn wir heute Kommentare aus Deutschland hören, man müsse in Griechenland ein Exempel statuieren, dann reißt das alte Wunden auf, von denen man gedacht hat, sie wären schon verheilt, aber sie treffen natürlich ganz berechtigt auf Empfindlichkeiten und auf Unwillen und Verletztheit.



domradio.de: Den Griechen geht es schlecht, vor allem der Mittel- und Unterschicht. Wie sieht es in Ihrer Gemeinde aus, was hören und sehen sie?

Lammer:  Unsere Gemeinde gehört im Grunde der Mittelschicht an. Einige Leute bekommen Renten aus Deutschland, weil sie lange Zeit in Deutschland gearbeitet haben. Sie spüren natürlich von der Krise nur mittelbar etwas, aber es gibt eben einen guten Teil der Menschen hier, die von der Krise sichtlich betroffen sind. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren immer wieder Menschen nach Deutschland verabschiedet, die hier noch nicht richtig Fuß gefasst haben. Sie haben in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation überhaupt keine Chance.



Wir sehen auch, dass Familien auseinandergerissen werden. Das ist besonders schmerzhaft, wenn Gemeindemitglieder, meistens sind es deutsche Frauen, mit ihren Kindern nach Deutschland zurückgehen, weil sie dort eine Aussicht auf einen Job haben und der Mann bleibt hier und versucht sich soweit wie möglich durchzuschlagen. Also diese Situation der sozialen Härte erleben wir hier sehr stark. Aber es ist nicht nur die Mittel- und die Unterschicht, die hier betroffen ist.



Am härtesten betroffen sind die Migranten und an erster Stelle die illegalen Migranten. Das ist zum Teil wirklich schon tragisch, was wir auch in unmittelbarer Nähe erleben müssen: Menschen, die zu uns kommen und um Hilfe bitten und regelrecht aus den Mülltonnen ihr Leben zu bestreiten haben. Dazu kommt dann noch - das ist ja so langsam auch in Deutschland ins Bewusstsein gerückt: Wir haben hier eine unglaubliche Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Die rechtsradikalen faschistischen Gruppen nehmen zu und nehmen sich natürlich genau die Migranten zum Ziel ihrer Aggression, was die Situation zusätzlich verschärft.



domradio.de: Sie als Pfarrer sind ja am ehesten ein Mann der Hoffnung, haben sie denn Hoffnung für die griechische Wirtschaft und für die Zukunft Griechenlands insgesamt?

Lammer: Natürlich habe ich Hoffnung für Griechenland, das ist gar keine Frage. Hier gibt es ja unglaublich viele gutausgebildete intelligente Menschen. Es ist gar nicht einzusehen, warum sie nicht auch auf einem globalisierten Markt konkurrenzfähig sein könnten und anbieten könnten, worin sie besonders gut sind.



Auf längerer Sicht habe ich natürlich Hoffnung und es wird auch wieder aufwärts gehen, bloß im Moment kann ich nicht sagen, dass wir die Talsohle schon durchschritten hätten. Das glaube ich eher nicht.



Ein Silberstreif am Horizont ist im Moment auch nur mit ganz viel Glauben zu erkennen. Ich höre letzten Endes keine Konzepte von Seiten der Wirtschaft und der Politik, wie es denn jetzt weiter gehen könnte in Griechenland. Das ist vielleicht das Härteste, worunter die Menschen hier zu leiden haben, nämlich die Perspektivlosigkeit. 25 Prozent Arbeitslosigkeit, jeder zweite Jugendliche ist arbeitslos - das zerrt natürlich an den Nerven. Das ist eine Situation, die auf Dauer nicht zu ertragen ist. Wir brauchen jetzt eine ganz konkrete Aufbauhilfe, die Griechenland in die Lage versetzt, selbst konkurrenzfähig zu produzieren und attraktiv zu werden auch für Investitionen.



Das Interview führte Christian Schlegel (domradio.de)