Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio zu Staat-Kirche-Verhältnis

"Zunehmend kämpferischer Laizismus"

Die Kirchen stehen unter Druck: Als die wohl größten privaten Arbeitgeber in Deutschland beschäftigen allein ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie rund eine Million Mitarbeiter. Doch das gesonderte kirchliche Arbeitsrecht steht mehr denn je auf dem Prüfstand. Ein Fürsprecher ist der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

In Kürze wird das Bundesarbeitsgericht über das Streikrecht bei der evangelischen Diakonie entscheiden. Beobachter erwarten, dass letztlich das Bundesverfassungsgericht angerufen wird. Auch die katholische Kirche sieht sich herausgefordert: Anders als bei den Protestanten geht es nicht um Streikrecht und Lohnfindung, sondern um die besonderen Loyalitätspflichten, die die Kirche von ihren Mitarbeitern fordert: Es geht darum, dass sie auf die Privatsphäre und die persönliche Lebensführung ihrer Arbeitnehmer zugreift und etwa Abtreibung oder neue zivile Ehe nach Scheidung mit Kündigung bestrafen kann.



2010 und 2011 haben der Europäische Menschenrechtsgerichtshof und das Bundesarbeitsgericht in konkreten Einzelfällen den Kündigungen eines Essener Organisten sowie eines Chefarztes eines katholisch getragenen Krankenhauses in Düsseldorf wegen Wiederheirat nach Scheidung widersprochen, allerdings im Grundsatz das kirchliche Arbeitsrecht bestätigt.



Was darf Religion? Dürfen kirchliche Normen das staatliche Streikrecht oder das individuelle Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrecht von Beschäftigten verdrängen? Es geht um viel: nicht nur um das Fortbestehen des kirchlichen Arbeitsrechts, sondern auch um das Image der Kirchen und um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat.



Kritik an hohen Gerichten

Beim 4. Rheinischen Kirchenarbeitsrechtstag warb der frühere Bundesverfassungsrichter Udo die Fabio am Dienstag im Katholisch-Sozialen Institut in Bad Honnef für weitgehende Autonomierechte der Religionsgemeinschaften und Kirchen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hätten ihnen einen großen Spielraum gewährt, weil sie nach den Erfahrungen mit den religionsfeindlichen Weltanschauungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus Vielfalt und Freiheit der Gesellschaft sichern wollten. Der 58-jährige Bonner Jurist definierte das Verhältnis des Staats zu den Kirchen in Deutschland als "wohlwollende Neutralität": "Der Staat weiß, dass seine kulturellen Grundlagen gestärkt werden durch aktive Glaubensgemeinschaften, die auf dem Fundament der Achtung persönlicher Freiheit stehen", so der Katholik. Das Prinzip der wohlwollenden Neutralität gehöre deshalb zur "Identität der deutschen Verfassungsordnung".



Di Fabio kritisierte, dass hohe Gerichte in Deutschland sowie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Autonomie der Religionsgemeinschaften zunehmend infrage stellten. Dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg billigte er zu, sich angesichts der großen Vielfalt der religionspolitischen Systeme in Europa "in einer Lernphase" zu befinden. So hätten die Richter im Streit um die Kreuze in italienischen Klassenzimmern letztlich doch das Recht auf positive Religionsfreiheit zugestanden. Der Menschenrechtsgerichtshof müsse die historisch gewachsenen Verfassungsidentitäten der Einzelstaaten respektieren.



In Deutschland macht di Fabio einen "zunehmend kämpferischen Laizismus" aus, der auch mit der Angst vor einem wachsenden Einfluss des Islam zusammenhänge. "Die Säkularisierung hat selbst Züge eines autoritären Machtanspruchs angenommen", betonte er. Der weltanschaulich neutrale Staat und die Gerichte dürften diese Weltanschauung nicht zum Maßstab für alle machen.



Der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing machte bei der Tagung deutlich, dass auch die EU das in Deutschland geltende Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Arbeitsrecht derzeit akzeptiere. "Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht", zitierte er aus EU-Verträgen. Damit greife auch das europäische Antidiskriminierungsrecht nicht in kirchliches Arbeitsrecht ein.