EuGH stärkt Asylrechte von religiös verfolgten Flüchtlingen

Religion voll und ganz leben

Der Europäische Gerichtshof hat die Asylrechte von religiös verfolgten Flüchtlingen gestärkt. Können Flüchtlinge ihre Religion in ihrem Heimatland nur bei drohenden schweren Strafen in der Öffentlichkeit, stellt dies eine Verfolgung dar. Eine reine Verlagerung der Glaubensausübung ins Private sei nicht zumutbar. Im domradio.de-Interview begrüßt Marei Pelzer (Pro Asyl) das Urteil.

 (DR)

domradio.de: Sie sagen, damit geht ein Vierteljahrhundert rückschrittlicher deutscher Asylrechtssprechung zu Ende. Was ist jetzt anders?

Pelzer: In Deutschland galt lange Zeit die Rechtsprechung, dass nur das sogenannte "forum internum" geschützt sei. Also dass nur wenn die Tatsache einen Glauben überhaupt zu haben, in dem Herkunftsland nicht möglich ist und dann Verfolgung droht, sei nur in diesem Fall Asyl zu gewähren. Das ist jetzt mit EUGH-Urteil anders. Der EUGH hat festgestellt, auch dann wenn sich ein Flüchtling im Herkunftsland religiös betätigen will, öffentlich seinen Glauben leben will und dann Verfolgung droht - dann darf er auch fliehen und in Deutschland Asyl bekommen.



domradio.de: Was war der Hintergrund für diese Entscheidung des europäischen Gerichtshofs?

Pelzer: Hier hatte das deutsche Bundesverwaltungsgericht den EUGH angerufen in einem Fall von zwei Flüchtlingen aus Pakistan, die Ahmadis waren und dort als religiöse Minderheit verfolgt worden sind. Das waren zwei Fälle, die in Deutschland abgelehnt worden waren und jetzt Anlass für diese EUGH-Entscheidung waren.



domradio.de:  EU-weit ist geregelt, wer als Flüchtling anzuerkennen ist. Diese Richtlinie war 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz auch in Deutschland umgesetzt worden. Die religiöse Verfolgung von Flüchtlingen blieb in der Praxis aber umstritten. Welche Klarstellung bringt das jetzt?

Pelzer: Hier muss man sagen, dass das Europarecht die Genfer Flüchtlingskonvention übernommen hat. Deutschland hat die Genfer Flüchtlingskonvention immer sehr restriktiv ausgelegt. Jetzt bringt quasi die Europäische Richtlinie die volle Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention auch nach Deutschland. Das ist sehr zu begrüßen. Die deutschen Gerichte waren noch nicht bereit, das sozusagen freiwillig zu machen. Da musste man jetzt den EUGH anrufen, dass der diese Klarstellung bringt, dass hier der Schutz vor religiöser Verfolgung weit auszulegen ist und nicht so eingeschränkt werden darf, wie das bisher in Deutschland der Fall war.



domradio.de: Von der Rechtsprechung wurde es bis dato als zumutbar angesehen, dass sich Betroffene jeglicher öffentlicher Ausübung ihrer Religion enthielten, um so einer Verfolgung zu entgehen. Wie realistisch war das denn, gerade in Ländern, wo Menschen sich über Religion ganz anders definieren als etwa in den europäischen Staaten?

Pelzer: Das ist natürlich nicht sehr realistisch. Es ist auch nicht sehr realistisch, dass man unentdeckt bleiben kann als religiöse Minderheit. Je nachdem ob hier zum Beispiel die Nachbarschaft, das Umfeld da nicht ein Auge darauf hat. Das ist von der praktischen Seiten gesehen schon eine recht unrealistische Sichtweise, die aber in der deutschen Rechtsprechung durchaus immer so angewandt worden ist.



domradio.de: Was bedeutet das konkret für Asylsuchende im Land, die also schon da sind und für solche, die nach Deutschland kommen wollen?

Pelzer: Ja, da muss man mal auf die Fälle schauen, die in der Vergangenheit abgelehnt worden sind. Sie können sich jetzt unter Umständen überlegen, einen sogenannten Folgeantrag zu stellen und zu beantragen, dass auf ihren Fall noch einmal neu darauf geschaut wird. Neuankömmlinge können sich eher sicher sein, dass sie quasi nicht zur religiösen Enthaltsamkeit aufgefordert werden in Deutschland, sondern dass ihnen dann auch der asylrechtliche Schutz gewährt wird - und was ja dann das Wichtige ist für die Menschen, ist, dass sie ihre Religion hier in Deutschland voll und ganz leben können. Es geht hier um einen Grundrechtsschutz und darum, dass die Menschen ihre Religion dann auch leben können. Zum Beispiel Konvertiten aus dem Iran, die zum Christentum konvertiert sind, dass sie ihre Religion dann auch leben können.



Das Interview führte Monika Weiß (domradio.de)



Hintergrund



Können Flüchtlinge ihre Religion in ihrem Heimatland nur bei drohenden schweren Strafen in der Öffentlichkeit ausüben, stellt diese eine Verfolgung und ein Grund für die Gewährung von Asyl dar. Die betroffenen Menschen können nicht darauf verwiesen werden, ihre Religion nur in privaten Räumen zu praktizieren, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch in Luxemburg. (AZ: C-71/11 und C-99/11).



Im konkreten Fall waren zwei Mitglieder der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft, eine islamische Erneuerungsbewegung, aus Pakistan nach Deutschland geflohen. Sie beantragten Asyl und Schutz als Flüchtlinge, da sie wegen ihrer Glaubensrichtung gezwungen waren, ihr Heimatland zu verlassen.



In Pakistan drohen Ahmadiyya-Mitgliedern bis zu drei Jahre Haft, wenn sie von sich behaupten, Muslime zu sein, ihren Glauben als "Islam" bezeichnen, oder wenn sie um neue Anhänger werben. Bei der Verunglimpfung des Namens des Propheten Mohammed sieht das pakistanische Strafgesetzbuch die Todesstrafe oder lebenslange Haft vor.



Bei den deutschen Behörden hatten die Flüchtlinge angegeben, dass sie in ihrem Heimatdorf mehrmals von einer Gruppe von Leuten geschlagen, mit Steinen beworfen und mit dem Tode bedroht wurden.



Grund sei lediglich ihr Beten auf dem öffentlichen Gebetsplatz gewesen. Bei der Polizei seien sie wegen Beleidigung des Propheten Mohammed angezeigt worden.



Die deutschen Behörden werteten dies jedoch nicht als "asylrelevante" Verfolgung. Die Flüchtlinge hätten ihren Glauben einfach nicht in der Öffentlichkeit ausüben müssen, hieß es.



Der EU-Gerichtshof stellte nun klar, dass die Religionsfreiheit auch das Ausüben des Glaubens in der Öffentlichkeit garantiere.

Drohen dabei schwere Strafen, sei dies als Verfolgung anzusehen. Den Flüchtlingen sei es nicht zuzumuten, dass sie auf ihre Glaubensbekundungen oder -betätigungen verzichten, nur um die Gefahr der Verfolgung zu vermeiden. Über die beiden verhandelten Fälle muss nun das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig abschließend entscheiden.