Rupert Neudeck über die Zustände im syrisch-türkischen Grenzgebiet

"Die Türken sind sehr, sehr hilfsbereit"

In Syrien gehen die erbitterten Kämpfe weiter und sorgen für viel Leid und Not bei der syrischen Bevölkerung. Viele versuchen das Land zu verlassen, fliehen vor den Schrecken in ihrer Heimat in die Türkei. Im syrisch- türkischen Grenzgebiet hat man sich auf diese Flüchtlinge eingestellt, berichtet Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Wie schwer ist es für die syrischen Flüchtlinge, über die Grenze in die Türkei zu kommen?

Neudeck: Das ist natürlich ein illegaler Weg, weil die türkische Regierung die Grenze abgesperrt hat. Aber die syrische Regierung und Armee sind nicht mehr in der Lage, die Grenze dort abzusperren, d.h. Grenzposten sind aufgegeben worden und jetzt überhaupt nur noch in der Hand der oppositionellen freien syrischen Armee. Deshalb können Flüchtlinge jetzt auch verstärkt hinüber. Ich saß eine Stunde in einem Dorf und da kamen gleich zwei Familien zu Fuß über die Grenze. Die türkische Bevölkerung ist sehr aufnahmebereit und hat keine Probleme, diese Menschen gleich auch in ihre Häuser aufzunehmen!



domradio.de: Die Flüchtlinge werden bei türkischen Familien privat untergebracht?

Neudeck: Das ist nicht offiziell. Es gibt zwei verschiedene Szenarien in dem Grenzgebiet zur Türkei: Das eine ist das des offiziellen türkischen Regimes, die Regierung hat dort große Lager eingerichtet und hat dort die Flüchtlinge recht straff kaserniert, weil man eben auch Sorge hat, dass zu viele Kurden hier Unterschlupf finden. Aber das gute ist: Es gibt eine zweite Politik, und das ist die Dorfpolitik. Die Dörfer dort und die Bewohner sind sehr freundlich und sehr sympathisierend mit der Bevölkerung von jenseits der Grenze und nehmen die Menschen einfach auf. In dem Dorf, in dem ich war, sind 150 Familien einfach in den Häusern untergekommen und werden dort auch von einer türkischen Nichtregierungsorganisation versorgt.



domradio.de: Aber in den Lagern sind die Zustände prekär? Man hört von protestierenden Flüchtlingen.

Neudeck: Ganz genau. Ich bin da auch gar nicht reingekommen, die türkische Regierung und auch die Botschaften in Berlin und Ankara haben mir vorher schon gesagt, dass ich dort als Vertreter einer Hilfsorganisation gar nicht reinkommen kann. Ich glaube aber, die Versorgung ist wohl gut und ausreichend. Allerdings gibt es einen strengen Sicherheitskordon. Ich bin da auch sofort kontrolliert worden, als ich nur in die Nähe eines dieser Lager kam. Das hat mit der Angst der türkischen Regierung zu tun vor Übergriffen und Infiltrationen von Menschen, die das Land dort nicht haben möchte.



domradio.de: Unter welchen Problemen leiden die Flüchtlinge am meisten? Haben sie Angst ausgewiesen zu werden?

Neudeck: In den Dörfern ist es ein freies Leben, da gibt es keine Angst. Ich glaube auch nicht, dass die türkische Regierung vorhat, Flüchtlinge wieder nach Syrien zu schicken. Die Regierung ist wie der ganze Westen im Grunde ratlos, in Bezug auf das furchtbare Menschenrechtsdebakel, das in Syrien stattfindet und immer noch weitergeht. Der Krieg dort findet ja eigentlich nur noch aus der Luft statt, weil Assads Armee so zerbröselt ist durch die Desertionen. Ich glaube nicht, dass Flüchtlinge aus der Türkei, Libanon, und Jordanien zurückgeschickt werden. Aber man weiß eben nicht, wie sich die Dinge in Syrien entwickeln, das ist die große Sorge der westlichen Welt. Kein Geheimdienst kann da wirklich verlässliche Prognosen und Informationen geben.



domradio.de: Was hat Sie auf dieser Reise am meisten beeindruckt?

Neudeck: Dass diese Menschen in einer so großen Zahl in diesen Dörfern Unterschlupf finden und aufgenommen werden. Die Bürger und auch die Bürgermeister sind wirklich sehr hilfsbereit. Und dass diese Menschen wahrscheinlich vor einen entscheidenden Abschnitt ihres Lebens stehen, sie wollen ja zurück in ihre Heimat, sie wollen nicht in irgendein anderes Land. Und sie wollen den Wiederaufbau ihres Heimatlandes betreiben. Das hat mich auch positiv gestimmt. Es werden ja jetzt von Experten immer wieder diese Horrorszenarien ausgebreitet, dass in diesem Land die einzelnen Gruppen sich gegenseitig bekämpfen werden. Das kann ich eigentlich so nicht sehen nachdem ich mit den Flüchtlingen gesprochen habe. Ich glaube, es gibt einen großen Prozess des Umdenkens. Man muss sich vorstellen, dass sind über 50 Jahre, in denen die Familie Assad dieses Land mit eiserner Hand beherrscht. Das Regime wird wahrscheinlich in den nächsten Wochen und Monaten zusammenbrechen. Dann werden die Menschen zuallererst aufatmen und wissen können, dass es so etwas gibt wie Opposition und ein anderes Regime und ein anderes Leben, als das unter der Assad-Familie!



Das Interview führte Tobias Fricke.



Hintergrund

Die Gewalt in Syrien zwingt immer mehr Menschen in die Flucht. Inzwischen seien rund 1,5 Millionen Syrer innerhalb des Bürgerkriegslandes geflohen, teilten die Vereinten Nationen am Dienstag in Genf mit. Seit Beginn des Volksaufstands gegen Diktator Baschar al-Assad im März 2011 starben nach UN-Schätzungen rund 17.000 Menschen. Unterdessen warnte das Deutsche Rote Kreuz davor, dass humanitäre Helfer in Syrien in tödlicher Gefahr seien.



Die Zahl von 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen stützt sich laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR auf Angaben des Syrischen Roten Halbmonds. Bisher war man von einer Million Binnenflüchtlingen in Syrien ausgegangen.



Ins Ausland flohen mittlerweile mehr als 150.000 Syrer, wie die Vereinten Nationen weiter erklärten. Die meisten Menschen mit syrischer Nationalität hätten in der Türkei (44.000), in Jordanien (knapp 39.000), im Libanon (knapp 33.000) und im Irak (8.000) Zuflucht gesucht.



Zudem fliehen den Angaben zufolge zunehmend Iraker aus Syrien. Seit Mitte voriger Woche hätten 10.000 Iraker in ihrem alten Heimatland Schutz gesucht. Innerhalb Syriens leben laut UNHCR noch etwa 80.000 irakische Flüchtlinge. Sie waren in den vergangenen Jahrzehnten vor Gewalt und Unterdrückung im Irak in das Nachbarland Syrien geflohen.



Angesichts der Gewalt in Syrien mahnte der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, die Achtung des humanitären Völkerrechts an. Die Versorgung von 1,5 Millionen Menschen in Syrien werde immer schwieriger, sagte der frühere Bundesinnenminister am Dienstag dem Deutschlandfunk. Der Syrische Rote Halbmond sei die einzige Hilfsorganisation, die mit 10.000 Mitarbeitern im ganzen Land arbeite. "Das ist ein gefährlicher Einsatz", sagte Seiters. Vor ein paar Wochen sei der Generalsekretär der Organisation erschossen worden.



Das Deutsche Rote Kreuz unterstützt die Schwesterorganisation mit Hilfe des Auswärtigen Amtes mit 1,1 Millionen Euro, wie Seiters erläuterte. Dadurch hätten 5.000 Familien Hilfspakete und Nahrungsmittel erhalten. "Also es ist schrecklich, dass man nicht mehr helfen kann", sagte Seiters. (epd)