Weihbischof Losinger fordert Debatte über menschenwürdiges Lebensende

"Suizid darf keine Lösung sein"

Die Selbsttötung darf kein Normalfall werden, davor warnt Weihbischof Anton Losinger. Losinger, der die Deutsche Bischofskonferenz im Deutschen Ethikrat vertritt, sieht die Menschenwürde am Lebensende zunehmend in Gefahr. Der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat am Donnerstag wider Erwarten kein Grundsatzurteil zur Sterbehilfe gesprochen.

 (DR)

domradio.de: Jetzt liegt der Ball also wieder bei den deutschen Gerichten. Sie müssen letztendlich entscheiden, wie in der Sterbehilfe zu verfahren ist. Haben es sich die Gerichte in Deutschland zu leicht gemacht?

Weihbischof Losinger: Man hätte ursprünglich damit gerechnet, dass heute durch den Europäischen Gerichtshof für die Menschenrechte in Straßburg eine Entscheidung fällt, ob es in Deutschland so etwas wie ein Grundrecht auf Sterbehilfe gibt. Der Kläger hatte das für seine Frau geltend gemacht, für die er ein tödliches Medikament in Deutschland hätte besorgen wollen und dann, nachdem das durch deutsche Behörden verboten wurde, seine Frau in die Schweiz gebracht.



Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für die Menschenrechte ist indifferent. Der Gerichtshof hat sich auf eine formale Beanstandung beschränkt, aber zur Sachfrage, ob die deutschen Behörden ein solches tödliches Medikament hätten gewähren müssen, sich nicht geäußert. Der Vorwurf, die deutschen Gerichte hätten den Fall nicht ausreichend geprüft, steht im Raum. Insofern wird wieder die deutsche Gerichtsbarkeit am Zug sein.



Wesentlicher erscheint mir aber hier die Frage, wie wird in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland mit der Frage des Sterbens umgegangen. Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft entsteht ja die Frage, wird Suizid, also die Selbsttötung, ein Element werden, wie menschliches Leben als Normalfall beendet werden kann. In der Ethik genauso wie in unserer Sicht des Rechts sagen wir, es darf keine schiefe Ebene geben. Suizid darf keine Lösung für die Beendigung eines menschlichen Lebens sein.



domradio.de: Jetzt liegt die Entscheidung über die Sterbehilfe in Deutschland wieder bei den Gerichten, aber kann man diese Frage ausschließlich juristisch beantworten?

Weihbischof Losinger: Die Frage der Sterbehilfe hat natürlich auch eine rechtliche Dimension, aber die entscheidende Dimension ist menschlicher und gesellschaftlicher Art. Was wir aus der Perspektive der Ethik immer wieder klarmachen, ist eines: Dass am Lebensende, gerade unter besonders erschwerten menschlichen Bedingungen und auch in einer Mischung eines gesellschaftlichen Drucks von außen, einem Menschen nicht Selbsttötung als eine Lösung vorgemacht werden darf. Denn viele von uns treffen auch Menschen, die sagen: "Ich will niemandem zur Last fallen", gerade dann, wenn man ein Pflegefall wird und in einer solchen existenziell und gesundheitlich schwierigen Situation landet. Hier, sage ich, entscheidet sich das humane Antlitz einer Gesellschaft daran, wie sie gerade mit den Schwächsten in ihrer Mitte in einer solchen Situation umgeht.



Wir sagen gerade auch in der katholischen Kirche in aller Glasklarheit, dass das Lebensrecht eines Menschen und die Würde nicht damit enden, dass ein Mensch krank wird und dass wir stattdessen andere Elemente vorschlagen, in einer solchen Situation zur Hilfe zu kommen. Wir sagen Maßnahmen zur Suizidprävention, die Weiterentwicklung der Palliativmedizin und auch die Ausweitung eines Hospizangebotes sind von einer wesentlichen Bedeutung, dass Menschen auch in einer solchen Situation menschenwürdig leben und auch menschenwürdig sterben können.



domradio.de: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat auch bemängelt, dass es unter den Mitgliedstaaten keine einheitliche Regelung in der Frage der Sterbehilfe gibt. Was glauben Sie, was ist das für ein Zeichen?

Weihbischof Losinger: Ich hoffe, dass man diese formelle Erklärung so interpretieren darf, dass sämtliche Staaten sich in aller Klarheit darauf verpflichten müssen zu erkennen, von welch höchstem Wert die Frage der Menschenwürde und des Lebensrechtes gerade in einer solchen existenziell schwierigen Situation ist. Für die Situation in Deutschland sehe ich sehr positiv, dass die Grundposition, die das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage immer wieder vertreten hat, hoffentlich weiter gilt und den Rechtsmaßstab in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt.



domradio.de: Bislang gibt es zur Sterbehilfe keine einheitliche Lösung in Europa. Warum meinen Sie, drücken sich die Entscheidungsträger in Europa um die Lösung dieser Frage?

Weihbischof Losinger: Ich denke, dass es mit der psychologischen Befindlichkeit von einzelnen Menschen und auch einer Gesellschaft zu tun hat, in der in einer älterwerdenden Gesellschaft Pflegebedürftigkeit, auch Demenz und die Frage des Sich-selbst- nicht- mehr- helfen-könnens stärker und stärker in den Mittelpunkt rückt. Leider ist in nicht wenigen Gesellschaften die Antwort darauf eine solche, dass man Suizid als Lösung sieht.



Gerade wer Dignitas oder Exit als Modell in der Schweiz der kommerziellen Sterbehilfe für Menschen in realer Weise praktiziert sieht, muss sehen, hier müssen andere humane Elemente an diese Stelle treten. Auch mit Blick auf die Frage des Krankenhauses muss gesagt werden, ärztlich assistierter Suizid, also den Arzt von einem Helfer zum Vollstrecker zu konvertieren, das kann doch nicht die Lösung sein. Schließlich wird insgesamt die Frage aktiver Sterbehilfe in unserer Gesellschaft einen breiter und breiter werdenden Raum einnehmen. Ich verweise hier nur auf die jüngste Stellungnahme des deutschen Ethikrates, die wir zur Frage Demenz und Selbstbestimmung gemacht haben: Wie wird unsere Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von dementen Menschen umgehen und deren Selbstbestimmung beurteilen, wenn eine existenzielle Notlage am Lebensende auftritt, in der weder ein einzelner Mensch noch die Gesellschaft sich derzeit genügend zu helfen weiß.





Das Interview führte Christian Schlegel (domradio.de)





Hintergrund

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland wegen seines Umgangs mit dem Thema Sterbehilfe verurteilt. Die Straßburger Richter rügten am Donnerstag allerdings nur formale Fehler der deutschen Gerichte - an den restriktiven deutschen Vorschriften zur Sterbehilfe rüttelten sie nicht. Diese heikle Frage müssten die europäischen Länder selbst regeln, unterstrich das Menschenrechtsgericht. (AZ: 497/09)



Kläger in dem Fall war ein Mann aus Braunschweig, Ulrich Koch, dessen Frau Bettina 2002 vor dem eigenen Haus schwer verunglückt war. Bei einem Sturz brach sie sich das Genick, war von da an querschnittgelähmt und auf künstliche Beatmung angewiesen. 2004 beantragte sie beim Bundesinstitut für Arzneimittel die Erlaubnis, eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital zu kaufen. Das Institut verweigerte dies.



Das Paar sah keinen anderen Weg, als in die Schweiz zu reisen, wo sich Bettina Koch 2005 mit Hilfe des Vereins Dignitas das Leben nahm. Der Witwer klagte später vergeblich vor allen deutschen Instanzen einschließlich des Bundesverfassungsgerichts. Schließlich zog er vor das Menschenrechtsgericht: Er sah das Recht seiner Frau auf menschenwürdiges Sterben und sein eigenes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.



Die Straßburger Richter wollten sich allerdings auf inhaltliche Fragen zur Legalität der Sterbehilfe nicht einlassen. Sie verwiesen darauf, dass über die Beihilfe zur Selbsttötung in den europäischen Staaten kein Konsens herrsche. Im Moment erlauben vier Länder es den Ärzten, ihren Patienten tödliche Arzneimittel zu verschreiben: die Schweiz, Belgien, die Niederlande und Luxemburg.



Es sei Aufgabe der deutschen Gerichte, Anliegen dieser Art in der Sache gründlich zu prüfen, unterstrich das Menschenrechtsgericht. Es verurteilte Deutschland allerdings dafür, dass genau dies nicht geschehen sei. Die Verfahrensrechte Kochs aus der Europäischen Menschenrechtskonvention seien nicht respektiert worden, stellten die Richter fest. Der deutsche Staat muss dem Mann rund 30.000 Euro Schmerzensgeld und Prozesskosten zahlen. Möglich ist, dass der Fall in Deutschland neu aufgerollt wird.



Die deutsche Bundesärztekammer zeigte sich erfreut über das Straßburger Urteil. "Die Regelungen zur Sterbehilfe bleiben in Deutschland unangetastet", sagte Präsident Frank Ulrich Montgomery. Die Rechtslage in Deutschland sei der in den allermeisten europäischen Ländern vergleichbar, betonte er. Der EU-Parlamentarier Peter Liese (CDU) erklärte: "Es gibt kein Recht auf Sterbehilfe." Wichtig sei es, die Palliativmedizin und die Hospiz-Bewegung stärker zu unterstützen.



Der Berliner Palliativmediziner Michael de Ridder sagte im Deutschlandfunk: "Wir sind aufgerufen, über Sterbehilfe und Lebensende-Medizin genauer nachzudenken und eine bessere Regelung zu treffen." Die Rechtslage sei im Moment ausgesprochen verworren. De Ridder warf die Frage auf, warum die Kranke nicht auf dem Abbruch der Behandlung und palliativmedizinische Begleitung bestanden habe - denn für jede Behandlung sei die Zustimmung des Patienten nötig. Letztlich sei es aber zu akzeptieren, wenn ein unheilbar kranker Patient den Zeitpunkt seines Todes selbst festlegen wolle, sagte der Mediziner.



Die deutsche Hospiz-Stiftung sprach sich gegen die Legalisierung aktiver Sterbehilfe in Deutschland aus. Suizid sei in Deutschland straffrei, sagte Patientenberater Kristjan Diehl dem WDR in Köln. "Wenn aber andere Menschen verpflichtet werden, durch einen Rechtsanspruch Dritter bei einer solchen Tötung mitzuwirken, dann wird eine Grenze überschritten, die uns nicht gut tun würde."