Caritasdirektor über Korruption, Armut und Fußball in Ukraine

Mit Wut und Zuneigung

Die Fußball-EM in der Ukraine sollte eigentlich ein Segen für die Bewohner sein. Das Land will sich von seiner guten Seite zeigen, Gastfreundschaft und Offenheit demonstrieren und seine pro-westliche Entwicklung unterstreichen. Doch kurz vor der EM ist es das alte Lied von Menschenrechtsverstößen Armut und Korruption, die das Image des Gastgeberlandes prägen. Der Chef der ukrainischen Caritas, Andrij Waskowycz, gibt im Interview einen Einblick in die Lebensrealität im Land.

 (DR)

KNA: Herr Waskowycz, ist es wahr, dass der Sozialhaushalt in der Ukraine zugunsten der Finanzierung der Infrastruktur für die EM gekürzt wurde?

Waskowycz: Ursprünglich sollte mit dem Geld ausländischer Investoren gebaut werden. Das scheiterte an strukturellen Problemen. Daher musste der Staat einspringen. Sicher hat sich das nicht positiv auf den Sozialhaushalt ausgewirkt. Aber das eigentliche Problem ist ein anderes.



KNA: Nämlich?

Waskowycz: Korruption. Die Verwendung staatlicher Gelder ist absolut intransparent. Wofür sie verwendet werden oder ob etwas abgezweigt wird, entzieht sich jeder gesellschaftlichen Kontrolle. Der ukrainische Staat ist die größte Ressource der Leute, die heute an der Macht sind. Staatsaufträge werden von Beamten und Politikern an Oligarchen vergeben - und die bauen dann zu überhöhten Preisen.



KNA: Haben Sie keine Angst, diese Missstände so offen zu benennen?

Waskowycz: In anderen autoritären Staaten sollte ich Angst haben. Aber in der Ukraine spricht selbst der Präsident über Korruption als das größte Übel des Staates. Man kann darüber reden, aber nichts dagegen tun. Die Korruption durchzieht die Gesellschaft von ganz oben bis ganz unten. Es gibt kein Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung, weil niemand Konsequenzen fürchten muss.



KNA: Verletzungen der Menschenrechte werden gerade im Fall von Julia Timoschenko vom Ausland immer wieder angeprangert. Zu Recht?

Waskowycz: Die Menschenrechte werden in einigen Punkten verletzt. Doch die Frage ist eher, ob die Menschen bereit sind, für ihre Rechte einzustehen.



KNA: Im Westen gilt Timoschenko als Märtyrerin. Bei Ihnen auch?

Waskowycz: Über sie gibt es bei uns verschiedene Ansichten. Ihr einstiger Mitstreiter und späterer Rivale, Ex-Präsident Viktor Juschtschenko, glaubt, sie wäre eine Gefahr für die Ukraine geworden, wenn sie an der Macht geblieben wäre. Manche Vorwürfe sind hart: Sie sei populistisch mit bisweilen faschistoiden Zügen. Sie wird als sehr berechnende Machtpolitikerin gesehen, die nicht immer im Interesse des Volkes gehandelt hat. Richtig ist: Sie sitzt unrechtmäßig im Gefängnis. Denn sie wurde nach einem Paragrafen aus der Sowjetzeit verurteilt, durch den sie für eine politische Entscheidung belangt wird. Das Parlament müsste über sie befinden, nicht die Strafjustiz.



KNA: In Kiew ist wenig von sozialer Not zu sehen. Gibt es sie nicht?

Waskowycz: Die Schere zwischen Arm und Reich ist von außen nicht sichtbar. In Kiew sieht der Besucher die Limousinen und Jeeps der Reichen und die restaurierten Boulevards mit den Designerläden. Die Armut bleibt am Stadtrand verborgen.



KNA: Wenn es so viele Reiche gibt, wie ist es um deren Solidarität bestellt?

Waskowycz: Sie nimmt durchaus zu. Der Milliardär Rinat Achmetow zum Beispiel unterhält eine Stiftung "zur Entwicklung der Ukraine". Ebenso Wiktor Pintschuk, der Schwiegersohn von Ex-Präsident Leonid Kutschma. Der scheffelte in den letzten Regierungsjahren seines Schwiegervaters Milliarden; heute unterstützt er Projekte für Aidskranke. Wir geraten damit in eine moralische Zwickmühle. Aber das zeigt, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist. In Kiew kann man einer Luxuskarosse mit einem Nummernschild begegnen, auf dem das Wort "Justice" (Gerechtigkeit) zu lesen ist. Das ist schon zynisch.



KNA: Welcher Weg ist für die Ukraine der richtige?

Waskowycz: Wir müssen uns zivilgesellschaftlich organisieren, mit Vertretungen, Lobbyarbeit und runden Tischen für unsere Interessen kämpfen und sie ins Parlament einbringen. Die Chance ist heute da.



KNA: Sie bleiben trotz allem optimistisch?

Waskowycz: Generell ja. Juschtschenko hat mal gesagt: Wir erleben in der Ukraine die Folgen eines posttotalitären, postkolonialen und postgenozidären Syndroms. Soll heißen: Die Menschen sind stark durch negative Erfahrungen geprägt und handeln deshalb heute oft sehr egoistisch. Die sogenannte Orangene Revolution hat aber gezeigt, dass dieses Volk auch solidarisch, verantwortungsbewusst und sozial handeln kann. Das gibt Hoffnung auf eine demokratische Zukunft.



Das Interview führte Katharina Ebel.