Vatikan-Insider Hagenkord erwartet weitere Enthüllungen

Der größte anzunehmende Unfall

Große Aufregung im Vatikan. Im Zuge der "Vatileaks-Affäre" um die Weitergabe geheimer Dokumente wurde nun der Kammerdiener des Papstes verhaftet. Im Interview mit domradio.de schwant Pater Bernd Hagenkord von Radio Vatikan Übles. Er glaubt nicht an die Einzeltäter-Theorie und erwartet neue Enthüllungen.

 (DR)

domradio.de: Hat der Vatikan nun seinen Schuldigen?

Pater Bernd: Es gilt die Unschuldsvermutung, aber wahrscheinlich hat der Vatikan nun EINEN Schuldigen, der Dokumente nach draußen gegeben hat. Aber so verführerisch diese Einzeltäter-Theorie auch sein mag, so wenig glaube ich daran. Es sind so viele Dokumente zu verschiedenen Zeitpunkten in so vielen verschiedenen Medien veröffentlicht worden, und das nun schon seit über einem Jahr. Das kann nicht sein, dass das nur einer war, der das alles weitergegeben hat! Ich vermute, da wird noch mehr kommen. Da sind noch mehr Dokumente im Umlauf, die wir in den nächsten Wochen und Monaten erleben werden.



domradio.de: Nun wird ja auch die Entlassung von Vatikanbankchef Tedeschi mit Vatileaks in Verbindung gebracht.

Pater Bernd: Ich glaube das war nur eine missverständliche Formulierung im Pressesaal. Das zeigt aber auch, wie hier momentan die Stimmung hochkocht. Es rangiert zwischen Entsetzen und Sprachlosigkeit auf der einen Seite und fürchterlicher Erregung auf der anderen Seite. Wir Vatikanmitarbeiter wissen auch gar nicht genau, wie damit umzugehen ist. Man merkt, dass die Sicherheitsvorkehrungen im Vatikan jetzt strenger werden, dass mehr kontrolliert wird. Auf der anderen Seite sieht man auch an dem Gerücht, dass Tedeschi etwas mit Vatileaks zu tun haben könnte, dass da jetzt schon fast alles geglaubt wird, weil das alles so desaströs und katastrophal wahrgenommen wird.



domradio.de: Was bedeutet das alles für den Papst?

Pater Bernd: Wenn es tatsächlich der Kammerdiener war, also jemand aus dem engsten Umfeld, dann wäre das der größte anzunehmende Unfall. Es wird daran darum gehen, dass die Strukturen so verändert werden, dass so etwas nicht mehr passieren kann. Es geht ja nicht darum, nun nur einen einzelnen Menschen zu suchen, sondern etwas zu ändern. Wenn man sich die Dokumente anschaut, die da an die Öffentlichkeit gelangt sind, so was darf in einem Apparat nicht passieren!



domradio.de: Wann und wie geht es nun weiter?

Pater Bernd: Der Papst hat ja eine Kommission benannt, die von drei Kardinälen geleitet wird, die sind weit über 80. Die haben also keine Ämter mehr inne, aber dafür Würde und Autorität. Sie können daher relativ unbefangen untersuchen. Ich vermute, dass die heutigen Meldungen schon ein erstes Ergebnis der Untersuchung ist. Ich vermute, dass es nicht das letzte Ergebnis sein wird. Wenn die weiter so schnell und zügig arbeiten, werden wir in den nächsten Wochen noch mehr darüber hören.



Das Interview führte Dagmar Peters.



Hintergrund

Der Vatikan hat die Verhaftung des Päpstlichen Kammerdieners Paolo Gabriele bestätigt. Er sei am Mittwochabend wegen des illegalen Besitzes von vertraulichen Dokumenten in seiner Wohnung festgenommen worden, heißt es in einer am Samstag veröffentlichten Erklärung. Seither befinde er sich in Gewahrsam.

Vatikansprecher Federico Lombardi erklärte gegenüber den Medien, die Ermittlungen wegen schweren Diebstahls würden voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehmen.



Die erste Phase der allgemeinen Untersuchung durch den vatikanischen Staatsanwalt Nicola Picardi sei bereits abgeschlossen, hatte der Vatikan zuvor bekannt gegeben. Jetzt habe die formale Untersuchung durch Richter Antonio Bonnet begonnen. Der Beschuldigte habe zwei Anwälte seines Vertrauens bestimmt, die ihn vor dem vatikanischen Gericht vertreten sollen. Er habe bereits mit ihnen gesprochen. Die Untersuchung werde geführt, bis sich ein klares Bild ergebe und der Untersuchungsrichter ein Verfahren einleite oder es einen Freispruch gebe.



Vor Journalisten erklärte Vatikansprecher Lombardi, bei den Nachforschungen sei nicht von "kurzen Fristen" auszugehen. Es sei ungewiss, welche weiteren Fragen sich dabei stellten und zu untersuchen seien. Der tatverdächtige Kammerdiener wohne auf vatikanischem Staatsgebiet und unterliege daher "vollständig den vatikanischen Justiznormen", stellte er klar.



Lombardi betonte zugleich, die vatikanische Justiz ermittle derzeit nur wegen schweren Diebstahls. Für anderslautende Spekulationen gebe es keinen Grund. Italienische Medien hatten zuvor vermutet, Gabriele könnte wegen "Verletzung der Korrespondenz eines Staatsoberhaupts" und damit wegen eines "Attentats auf die Sicherheit des Staates" belangt werden. Dafür sieht das italienische Strafrecht, das in weiten Strecken für das des Vatikanstaates richtungsweisend ist, bis zu 30 Jahre Haft vor.



Seit Jahresbeginn waren mehrere als geheim eingestufte Vorgänge aus dem Vatikan in TV-Sendungen und Zeitungen publik geworden; der Vorgang wurde als "Vatileaks" betitelt. Ende April setzte Benedikt XVI. eine Untersuchungskommission aus drei pensionierten Kardinälen ein, um die undichten Stellen zu finden.



Vor einer Woche erschien ein Buch des TV-Journalisten Gianluigi Nuzzi mit neuen Enthüllungen und Faksimile zahlreicher Dokumente. Der Vatikan kündigte daraufhin ein entschiedeneres Vorgehen an. Personen, die vertrauliche Dokumente gestohlen, widerrechtlich weitergegeben und kommerziell genutzt hätten, müssten sich vor Gericht verantworten, hieß es.