Kirchen-Appell vor NRW-Abstimmung

Wählen gehen!

Endspurt im nordrhein-westfälischen Wahlkampf für SPD, CDU, Grüne, FDP, Piraten und Linke, über ein Drittel der Wahlberechtigten wissen noch nicht, ob und wen sie wählen. Im domradio.de-Interview appelliert Prälat Martin Hülskamp, Leiter des Katholischen Büros in NRW an die Menschen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.

 (DR)

domradio.de: Guten Tag, Herr Prälat! Die amtierende Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann von den Grünen gehen am Sonntag mit gestiegenen Umfragewerten in diese Landtagswahl. Die SPD kommt auf 37%, die Grünen auf 12. Wie beurteilen Sie diese Positionen?--
Prälat Martin Hülskamp: Es scheint so zu sein, dass sich aus der jetzigen Minderheitsregierungssituation heraus die beiden Hauptprotagonisten soweit konsolidiert haben, dass sie bei der nächsten Wahl so viel Vertrauen haben, dass sie eine gemeinsame solide Mehrheit erreichen. Ohne mich wertend Dritten gegenüber zu äußern, spricht das dafür, dass diese Minderheitsregierung trotz ihrer Situation gut in Tritt gekommen ist und bei den Bürger/innen Vertrauen erworben hat.



domradio.de: Schauen wir kurz auf die anderen Parteien: Die FDP hat ja mit einer Prognose von 6% gute Chancen auf einen Verbleib im Parlament. Die Piraten verzeichnen nach ihrem Höhenflug nun fallende Werte, das gilt auch für die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Norbert Röttgen. Bei der aktuellen Umfrage kommt er nur noch auf 30%. Unabhängig vom Ausgang dieser Wahl: Wie wichtig ist es, dass es jetzt in NRW nach zwei Jahren Minderheitsregierung eine stabile Regierung gibt? --
Prälat Hülskamp: Es ist ganz offenbar so, dass unbeschadet wichtiger und zukunftsträchtiger Themen, die angepackt wurden, eine Minderheitsregierung doch immer nur eher "weiche" Themen ansprechen kann und die wirklich anstehenden zukunftsweisenden strukturellen Aufgaben, für die man wirklich, auch haushaltstechnisch, eine vernünftige Mehrheit braucht, zu kurz kommen. So haben das die Bürger/innen jedenfalls gleichermaßen gesehen.



domradio.de: Welche Themen muss die neugewählte Regierung dringend angehen?--
Prälat Hülskamp: Ich will mich jetzt nicht auf einzelne Politikfelder einlassen, aber wichtig ist, von einer Kurzfristigkeit in den verschiedensten Politikbereichen wegzukommen. In der Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik, in der Schulpolitik, in der Sozialpolitik ist das ja schon gelungen. Wichtig ist, dass die Gesellschaft, die ja auch in rechte und linke Strömungen zu zerfallen droht, wirklich zusammengehalten wird, dass die Gesellschaft als Ganzes Perspektiven bekommt, dass Werthaltigkeit wieder stärker in der Politik verankert wird und nicht so sehr politische Hoffnungen oder Tricks oder das Phänomen, das die Piraten mit ihren neuen Kommunikationswegen darstellen, sondern dass wirklich Langfristigkeit und Wertorientiertheit stärker in den Mittelpunkt gerückt werden und dass der Mensch mit all seinen Bedürfnissen - davon muss die Politik immer ausgehen - Beachtung findet. Nicht so sehr, um jetzt bestimmte Maßnahmen, wie das so schön heißt, zu ergreifen, sondern um strukturell verlässlich die Zukunft zu gestalten.



domradio.de: Viele Wähler bundesweit haben ja das Vertrauen in die Politik verloren. Sie fordern mehr Ehrlichkeit und Transparenz. Die Piraten als Neulingspartei werden nun wahrscheinlich auch in NRW von den Protestwählern profitieren. Wie können die Politiker das verlorene Vertrauen wieder zurückgewinnen?--
Prälat Hülskamp: Wie bereits zum Teil angesprochen: Wichtig ist, dass die Leute den Eindruck haben, dass sie es mit verlässlichen Persönlichkeiten zu tun haben, nicht mit Leuten, die von einem individuellen Interesse zum nächsten hoppen, sondern die sich wirklich langfristig binden und für die Menschen und deren Anliegen einstehen. Ich werde nie vergessen, was ein langjähriger Landtagsabgeordneter mir zu Beginn meiner Tätigkeit in Düsseldorf einmal sagte: Das Entscheidende, was ein Politiker braucht, ist Geduld und Verlässlichkeit.



domradio.de: Noch sind 20% der Wahlberechtigten unentschlossen und weitere 10% hadern noch, ob sie sich am Sonntag überhaupt auf den Weg zur Wahl machen sollen. Ihr Appel an diese Unentschlossenen?--
Prälat Hülskamp: Ich würde wirklich jede und jeden darum bitten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Wir haben keine Wahlpflicht, das ist auch gut so, aber jede/r Bürger/in trägt Mitverantwortung für das, was passiert. Und das gilt gerade auch für uns Christen und auch uns Katholiken. Wir sind als Christen die Mehrheit dieser Gesellschaft. Und es wäre wirklich sehr wünschenswert, wenn auch durch unser politisches Verhalten bei den Wahlen dieser Sachverhalt wieder deutlicher zum Tragen käme. Jeder möge wirklich sein Wahlrecht wahrnehmen, sich ein Urteil bilden und dann seiner Meinung entsprechend Ausdruck geben.

Das Interview führte Monika Weiß.



Hintergrund

Es war ein Turbo-Wahlkampf: In nur zwei Monaten mussten die Parteien in Nordrhein-Westfalen den Wählern vermitteln, warum sie ihr Kreuzchen genau bei dieser oder jener Partei machen sollten. Dennoch galt der Wahlkampf insgesamt als inhaltsleer. Eine der intensivsten Diskussionen entspann sich darüber, ob die SPD mit einer Currywurst werben sollte. Doch es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Parteien. Die Nachrichtenagentur dapd stellt die Positionen der Parteien vor.

SPD: Die SPD wirbt vor allem mit emotionalen Themen. "Kein Kind zurücklassen", lautet der Wahlspruch der Partei, der sich sowohl auf die Bildungs- als auch die Sozialpolitik bezieht. Der Ausbau von Kindertagesstätten soll mit 400 Millionen Euro vorangetrieben und die Beitragsfreiheit ausgeweitet werden. Langfristig soll es für Kinder und Jugendliche ein "Recht auf Ganztag" geben. Neue Einnahmen erhofft sich die SPD vor allem durch die Besteuerung von Vermögen und Erbschaften und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Die SPD bekennt sich zum Industriestandort NRW und will Handwerk und Mittelstand stärken. Die Energiewende soll vorangetrieben werden.

CDU: Nicht auf Emotionen, sondern auf Zahlen setzt die CDU im nordrhein-westfälischen Wahlkampf. Gerne brandmarkt die Partei Ministerpräsidentin Hannelore Kraft als Schuldenkönigin und stellt ein Ende der Schuldenpolitik in Aussicht. Gespart werden soll vor allem bei Förderprogrammen und in der Landesverwaltung. Zusätzliche Einnahmen verspricht sich die CDU durch die Ratifizierung des Steuerabkommens mit der Schweiz. Die Beitragsfreiheit des dritten Kindergartenjahres halten die Christdemokraten zwar ebenso für einen Fehler wie die Abschaffung der Studiengebühren, wollen die Entscheidungen aber nicht mehr rückgängig machen.

Grüne: Bessere Bildung und erneuerbare Energie sind die Brot- und Butter-Themen der Grünen in diesem Wahlkampf. Sie verweisen auf den Erfolg des Schulkonsenses und stellen darüber hinaus den weiteren Ausbau von Kita-Plätzen und Ganztagsbetreuung in Aussicht. Die Grünen setzen auf Energie- und Ressourceneffizienz und wollen den Bau neuer Kohlekraftwerke verhindern. Die erneuerbaren Energien sollen zügig ausgebaut werden. In der Finanzpolitik fordern sie die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Erbschaftssteuer sowie eine Vermögenssteuer. Die Grünen beziehen klar Front gegen Rechtsextremismus und wollen Teilhabe und Mitbestimmung stärken.

FDP: Ihr Nein zum rot-grünen Etatentwurf feierte die FDP als Ausdruck ihrer Glaubwürdigkeit und zog mit dem Slogan "Lieber neue Wahlen als neue Schulden" in den Wahlkampf. Die Verwaltung soll gestrafft, staatseigene Betriebe überprüft und gegebenenfalls privatisiert werden. Die FDP verlangt eine Gemeindefinanzreform, die den Kommunen dauerhaft verlässliche Einnahmen sichert. Der Mittelstand soll gestärkt und unnötige Bürokratie abgeschafft werden. Energie soll bezahlbar bleiben. Die FDP bekennt sich zum Gymnasium und verlangt individuelle Förderung für jedes Kind. Die Partei tritt zudem gegen das Rauchverbot und ein Tempolimit ein.

Linke: "Wir sind das Original", will die Linke mit ihrem Wahlprogramm mit dem Titel "Original sozial - konsequent solidarisch" dem Wähler in einer Zeit zurufen, in der selbst die CDU mit dem Mindestlohn liebäugelt. Die Partei fordert einen Schutzschirm für die Menschen: Hartz IV soll zu einer Grundsicherung in Höhe von 500 Euro im Monat ausgebaut werden, der Mindestlohn soll bei zehn Euro liegen, gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Die Linke setzt auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer als Millionärssteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer und eine Börsenumsatzsteuer. Nach Ansicht der Linken soll Bildung grundsätzlich kostenlos sein.

Piraten: Die Piraten wollen eine Politik, "bei der jeder mitmachen kann". Abstimmungen über alle inhaltlichen Fragen sollen möglich sein, die Quoren bei Volksentscheiden abgeschafft werden. Eine Legislaturperiode soll nur noch vier Jahre dauern, die Fünf-Prozent-Hürde bei Landtagswahlen auf zwei Prozent gesenkt werden. Überwachung im Internet und in der Öffentlichkeit soll verhindert werden. Auch die Piraten wollen eine komplett kostenlose Bildung. Sie lehnen das mehrgliedrige Schulsystem ab und schlagen eine "Schule mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten" vor, in der jeder Schüler bestimmte Kurse belegen kann.