Schmerzensgeld für frühere Sicherungsverwahrte

"Es wird zu viel über die Täter gesprochen"

Es ist ein Urteil mit möglicherweise weitreichenden Folgen für alle Bundesländer: Das Land Baden-Württemberg muss vier früheren Häftlingen aus der Sicherungsverwahrung insgesamt 240.000 Euro zahlen. Veit Schiemann vom Opferverband "Weißer Ring" im domradio.de-Interview zu dem Karlsruher Richterspruch.

 (DR)

domradio.de: Was halten Sie als Organisation die Gewaltopfer vertritt von diesem Urteil?

Schiemann: Auch wir stehen auf dem Boden des Rechtsstaates und müssen anerkennen, dass das formaljuristisch richtig ist. Gleichwohl haben wir natürlich volles Verständnis für die Enttäuschung und Empörung der Bürger - und gerade die der Opfer, die fragen: Wie kann das sein?



domradio.de: In Internet-Foren ist die Empörung bereits jetzt schon recht groß über dieses Urteil. Für viele verstößt es gegen das eigene Rechtsverständnis...

Schiemann: ...was nachvollziehbar ist. Wenn die Menschen sagen: Es geht um schwere Straftäter, von denen noch immer eine Gefahr ausgeht. Sonst wäre die Sicherungsverwahrung nicht verhängt worden. Und trotzdem bekommen die auch noch Geld vom Staat! Aber natürlich muss man das Rechtliche auch noch genau anschauen, dann sieht es auch wieder ein bisschen anders aus.



domradio.de: Die Sicherungsverwahrung ist ja grundsätzlich ein kompliziertes Thema, oder?

Schiemann: Die Richter der EU hatten ja die bisherige Praxis der nachträglichen Verwahrung aufgehoben und gesagt: So geht es nicht. Das liegt nicht daran, dass sie gesagt haben: Die Sicherungsverwahrung ist nicht durchführbar, sondern dass sie nicht auf dem richtigen gesetzlichen Boden verankert war; dass Deutschland als Staat und Gesetzgeber dort nicht ausreichend gehandelt und nachgebessert hat. Wir hoffen, dass das, was  mit dem neuen Versuch der Regierung auf den Weg gebracht wurde, nicht noch einmal von der EU kassiert werden muss.



domradio.de: Grundsätzlich ist die Sicherungsverwahrung ein unverzichtbares Instrument des Strafrechts?

Schiemann: Aus unserer Sicht, ja. Aber wir sind keine Strafrechtsexperten. Wir beschäftigen uns genau mit der anderen Seite der Medaille.



domradio.de: Bei der Diskussion in Deutschland spielen ja immer die Menschenrechte eine Rolle, auch die der Täter in einem Rechtsstaat. Geht es zu viel um die Täter?

Schiemann: Grundsätzlich wird zu viel über die Täter gesprochen. Das fängt schon bei der Berichterstattung an: Wenn ein großes Aufsehen erregendes Verbrechen geschieht, liest man über den Täter, seine Lebensgeschichte, seine Beweggründe, den Ablauf der Tat. Was man aber nicht liest: Wie geht es den Opfern? Wie kann ihnen geholfen werden? Was haben die Opfer für Probleme? Die Opfer werden zunächst in den Medien, aber schließlich auch von der Gesellschaft vernachlässigt.



domradio.de: Ist das nicht auch ein Schutz der Opfer?

Schiemann: Es geht darum, als Gesellschaft anzuerkennen, dass die Opfer die gleiche Chance haben müssen, sich von der Straftat zu erholen - wie der Täter sie haben muss, rehabilitiert zu werden.



Zur Person:

Veit Schiemann ist Vorsitzender des Opferverbandes "Weißer Ring" .



Hintergrund:

Das Urteil hat nach Ansicht von Rechtsexperten "Signalcharakter" für bundesweit mehrere Dutzend Betroffene, die nun ebenfalls Schmerzensgeld wegen unrechtmäßiger Sicherungsverwahrung von ihrem Bundesland fordern könnten. Das Land Baden-Württemberg will in den nächsten Wochen entscheiden, ob es Berufung einlegt.

Die vier einstigen Sexualstraftäter waren in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Freiburg nach Verbüßung ihrer Haftstrafen noch weitere 18 bis 22 Jahre in Sicherungsverwahrung genommen worden. Damit wurde die bei ihrer Verurteilung geltende Verwahrungs-Höchstfrist von zehn Jahren um acht bis zwölf Jahre überschritten. Die Entschädigungssummen für diese Zeitdauer betragen in den vier Fällen 73.000 Euro, 65.000 Euro, 53.000 Euro und 49.000 Euro. Das Landgericht legte jeweils 500 Euro pro Monat zugrunde.



Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.