Der Deutsche Ethikrat empfiehlt Investitionen in den Umgang mit Demenzkranken

Ein Gradmesser der Menschlichkeit

"Demenz ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft", sagt Anton Losinger. Im domradio.de-Interview erklärt der Augsburger Weihbischof, was der Deutsche Ethikrat der Bundesregierung empfiehlt – und wo sich das Gremium nicht einig ist.

Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger (KNA)
Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger / ( KNA )

domradio.de: Warum hat sich der Ethikrat dem Thema Demenz so ausführlich angenommen?

Losinger: Das Thema Demenz ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft wie der persönlichen Existenz von Menschen. Alleine zu erfahren, dass man dement wird und mit dem Verlust der eigenen geistigen Kräfte in eine völlig ungewisse Zukunft gehen muss, bewegt, berührt und erschreckt Menschen zutiefst. Deshalb ist es richtig und gut, dass der Deutsche Ethikrat sich dieses Themas angenommen hat; und dass er in seiner Stellungnahme für die Bundesregierung eine Reihe von weit reichenden Empfehlungen geschrieben hat, die für den zukünftigen Umgang mit Menschen, die von Demenz betroffen sind, gelten sollen. Und die gerade dann, wenn sich das Problem ausweitet, den Blick auf eine humane, liebevoll-betreute Situation wiedergibt - die diese Menschen besonders brauchen.



domradio.de: Wie gut sehen Sie Deutschland für die Zukunft beim Thema Demenz gerüstet?

Losinger: Wenn das Thema Demenz eine solche Dimension beibehält, wie wir sie jetzt kennen und erwarten, halte ich es für absolut richtig, dass die sich die Bundesregierung mit einem nationalen Aktionsplan Demenz auseinandersetzt. Und darin auch Strukturfragen für die Behandlung dieser Menschen angeht. Das Ziel das der Deutsche Ethikrat formuliert hat, halte ich für äußerst einsichtig: Es geht darum, dass Pflege in der Situation der Demenz ein möglichst langes, selbständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen soll. Und dass damit auch die in einer bestimmten Phase von Demenz noch immer vorhandenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen gestaltet und erhalten werden sollen, weil das ein Ausdruck der persönlichen Würde ist. Aber gleichzeitig ist klar, dass mit Demenz der ganze Sektor Pflege kommt. Uns muss klar sein, dass pflegende Angehörige an ihre Belastungsgrenze kommen; dass sie entlastet, ausgebildet und auch entsprechend honoriert werden müssen. Und dort, wo es um professionelle Pflege geht, schlagen wir vor, dass es zu Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Demenz auch notwendig ist, dass die Ausbildungsgänge für Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege auch Module für Menschen mit Demenz als Krankheit enthalten sollen.



domradio.de: Am Ende des Papieres gibt es ein Sondervotum des Mitgliedes Volker Gerhardt. Er spricht einen besonderen Fall an: dass Menschen, die noch völlig bewusst und entscheidungsfähig sind, beschließen, sterben zu wollen angesichts einer drohenden Demenz. Müsste die Entscheidungsfähigkeit eines noch gesunden Menschen nicht mehr wiegen als das vegetative Lebenszeichen eines kranken Menschen?, fragt er. Was sagen Sie dazu?  

Losinger: Ich kritisiere die Position, die lautet: in der Phase der Entstehung von Demenz die Freiheit zum Suizid als eine Lösung zu sehen. Sondern: Die Herausforderung des Umgangs mit Menschen in dieser existenziell herausgeforderten Situation lautet vielmehr, ihnen einen Raum des Behütetseins und der Begleitung zu geben. Und unter keinen Umständen sozialen Druck zu vermitteln, dass diese Menschen sagen: Ich will von mir aus dem Leben scheiden.



domradio.de: Dennoch: In jüngster Zeit gab es mit Millionenerbe und Künstler Gunter Sachs und Ex-Fußballer Timo Konietzka zwei Beispiele dafür, wie Demenz Menschen in den Suizid getrieben hat. Ist nicht die Gefahr gegeben, dass ihnen viele folgen werden?

Losinger: Die Auseinandersetzung mit der Diagnose Demenz bedeutet für Menschen natürlich ein tiefes Angegriffensein, eine tiefe existenzielle Notlage. So kann man die Angst durchaus nachvollziehen, dass Menschen keine andere Möglichkeit für sich auf den ersten Blick sehen können als das Ausscheiden aus dem Leben. Der Gegengrund dafür liegt in anderen Menschen, die gerade in dieser Situation Hoffnung geben. Etwa auch in der Einrichtung des Hospizes, auch in all den Begleitungs- und Betreuungsmöglichkeiten, die die Gesellschaft in einer solchen Situation bieten muss. Ich würde sagen, eine Gesellschaft, die Menschen mit Demenz in dieser hochangegriffenen Situation nicht davon abhält, mit Hoffnung nicht in den Freitod gehen zu wollen, ist eine kalte und raue Gesellschaft. Gerade die Frage des Umgangs mit Demenz kann auch ein Zeichen des Grades der Humanität unserer Gesellschaft sein.



Zur Person:

Anton Losinger gehörte zwischen 2005 und 2008 dem Nationalen Ethikrat an. Seitdem ist der katholische Geistliche Mitglied im Nachfolgegremium Deutscher Ethikrat.



Hintergrund:

Der Deutsche Ethikrat hat einen menschlicheren Umgang mit Demenzkranken gefordert. Demenz dürfe nicht nur mit der Zerstörung der geistigen Leistung gleichgesetzt werden. Demenzkranke seien empfindende, emotionale und soziale Menschen, heißt es in einer am Dienstag in Berlin veröffentlichten Stellungnahme. Deshalb müssten ihre Selbstbestimmung stärker beachtet und ihre vorhandenen Fähigkeiten stärker gefördert werden. Derzeit leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer mittleren bis schweren Demenz. Experten rechnen für das Jahr 2050 mit mehr als zwei Millionen Betroffenen.



Mehr Augenmerk sollte nach Ansicht des Ethikrats insbesondere darauf gelegt werden, inwieweit Demenzkranke bei der Pflege etwa mit Gittern im Bett gehalten werden. Das Gremium kritisierte zudem, dass die Forschung in Medizin und Pflege sowie die zugehörige Praxis überwiegend auf Früherkennung und Symptomlinderung ausgerichtet seien. Stattdessen müssten der lange Weg der Erkrankung und die dabei erforderliche Begleitung der Patienten stärker in den Blick genommen werden. "Dies erfordert eine Haltung der Achtsamkeit, die sich an den konkreten Bedürfnissen des Betroffenen orientiert und das Konzept einer assistierten Selbstbestimmung verwirklicht", heißt es.



In seinen 16 Empfehlungen an die Bundesregierung spricht sich der Ethikrat für mehr Unterstützung und bessere finanzielle Anerkennung für die pflegenden Angehörigen sowie eine stärkere Förderung von ambulant betreuten Haus- und Wohngemeinschaften aus. "Es sollte geprüft werden, ob die aus der häuslichen Pflege vertrauten Personen einen Dementen auch im Krankenhaus betreuen können."



Bei der Prüfung der Anwendbarkeit einer Patientenverfügung sind nach Meinung des Ethikrates Äußerungen des Lebenswillens entscheidungsunfähiger Patienten einzubeziehen. "In Fällen, in denen die Entscheidungsfähigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, ist wegen der Unumkehrbarkeit lebensbeendender Maßnahmen lebensbejahenden Bekundungen stets der Vorrang vor einer anderslautenden Patientenverfügung zu geben."



Das Gespräch führte Mathias Peter.