Welthungerhilfe kritisiert deutsche Entwicklungshilfe

Klassische Hilfe greift nicht mehr

Vor einer schleichenden Marginalisierung der Entwicklungszusammenarbeit warnt die Deutsche Welthungerhilfe. Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann, fordert im domradio.de-Interview eine besser aufeinander abgestimme Entwicklungshilfe innerhalb der Bundesregierung.

 (DR)

domradio.de: Wieso funktioniert das Denken "reicher Norden, armer Süden" nicht mehr?

Wolfgang Jamann: Es hat sich ein bisschen was geändert in den letzten 10 bis 15 Jahren, also es kommen nicht nur immer mehr globale Krisen auf uns zu, das sind wir ja mittlerweile fast gewöhnt, dass sich die Umwelt- und Klimakatastrophen mit der Finanzkrise die Klinke in die Hand geben. Es gibt leider auch Veränderungen in der weltweiten Armutssituation. Es gibt immer noch 2 Milliarden Menschen, die an der Armutsgrenze oder darunter leben. Interessanterweise sind das immer mehr Menschen, die in Ländern mit mittlerem Einkommen leben. Da fragt man sich natürlich: Wie geht man damit um? Die klassische Hilfe für arme Länder ist offensichtlich nicht mehr das, was heute gebraucht wird.



domradio.de: Wie ist denn das aktuell überhaupt - hat die Bundesregierung für einzelne Länder eigene Entwicklungshilfestrategien in der Schublade? Hier ist Afrika, hier ist Indien, da gibt es diese Projekte, dort jene, die wir fördern?

Jamann: Die Bundesregierung hat Schwerpunktländer, die sind allerdings schon wieder reduziert worden, es sind nur noch 50 Schwerpunktländer, in denen die Bundesregierung bilaterale Hilfe anbietet. Man hat sich in den letzten anderthalb Jahren in der Bundesregierung, insbesondere im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine Reihe von Gedanken gemacht und Konzepte entwickelt, wie man diesen neuen Herausforderungen begegnen sollte. Diese Konzepte sind zum Teil sehr interessant, z.B. spielen die Menschenrechte eine immer größere Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit …



domradio.de: … indem man sagt: Da wo die Menschenrechte eingehalten werden, fördern wir mehr?

Jamann: … oder umgekehrt. Auch die Entwicklungshilfe wird möglicherweise konditioniert oder an Bedingungen geknüpft, dass Menschenrechte gewährleistet werden. Allerdings sind diese Konzepte nicht immer verbindlich, z.B. für andere Ressorts. Weil auch in anderen Ministerien wird Entwicklungszusammenarbeit geleistet, und da gilt dann ein solches Menschenrechtskonzept leider nicht.



domradio.de: Wie muss eine Entwicklungshilfe aussehen, die "globale" Entwicklungsziele verfolgt?

Jamann: Es geht wie gesagt zunächst einmal darum, die Entwicklungshilfe innerhalb der Bundesregierung besser aufeinander abzustimmen, aber dann natürlich auch mit der Entwicklungszusammenarbeit anderer Geber, insbesondere der Europäischen Gemeinschaft stärker abzustimmen. Da gibt es ein sogenanntes Kohärenzgebot, das muss einfach alles besser zueinander passen. Und da gibt es sicherlich noch einiges zu tun. Gleichzeitig heißt Globalisierung heute, dass ganz andere Länder eine Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit spielen - die arabischen Staaten, China, Indien - und auch mit denen muss man eigentlich viel mehr in Dialog treten, als das in der Vergangenheit der Fall war.



domradio.de: Entwicklungshilfe für Schwellenländer wie China, da boomt doch die Wirtschaft. Gleichzeitig wird die Landbevölkerung immer ärmer und ärmer. Wie soll das funktionieren? Also Deutschland leistet jetzt Entwicklungshilfe für China?

Jamann: Die Bundesregierung hat entschieden, dass dieser Fall von Entwicklungszusammenarbeit und -hilfe tatsächlich heruntergefahren wird, und das ist auch prinzipiell erst einmal richtig. Allerdings muss an diese Stelle etwas anderes treten, man muss stärker zivilgesellschaftliche Gruppierungen in diesen Ländern unterstützen, damit sie ihr Recht auf Entwicklung, das ja alle Menschen in diesen Ländern haben, auch selbst einfordern können. In Indien leben über 400 Millionen Menschen in Armut, das sind mehr als auf dem afrikanischen Kontinent. Für die kann im Prinzip kein Land wie Deutschland sorgen, sondern die müssen sich selbst formieren und ihre eigene Regierung in die Verantwortung nehmen, damit sie ihr Recht auf Entwicklung wahrnehmen dürfen.



domradio.de: Kann Deutschland darauf hinwirken? Also zum Beispiel mit der indischen Regierung sprechen und dafür sorgen, dass diese ihre armen Gebiete besser unterstützt?

Jamann: Absolut! Diese Art von Einflussnahme ist immer noch angesagt, allerdings ist klar: Diese Entwicklungsländer, gerade die Staaten in Afrika, die ja nicht immer gut regiert werden, haben mittlerweile Alternativen, die können auch sagen: Wenn uns die Bundesregierung zu unbequem wird, dann gehen wir halt zu anderen Ländern, denen Menschenrechtsaspekte vielleicht nicht so wichtig sind. Insofern ist es wichtig, die Gruppierungen in den Ländern selbst zu unterstützen, damit die ihre eigene Regierung in die Verantwortung nehmen. Und diese Unterstützung kostet auch Geld, die ist langfristig notwendig, aber kostet vielleicht nicht so viel Geld, wie wenn man später finanziell mit Bürgerkriegsopfern und Konfliktregionen umgehen muss.



domradio.de: Der Bericht "Die Wirklichkeit der Entwicklungspolitik" als "Schattenbericht" zur offiziellen Entwicklungshilfe wird seit 1993 jährlich von der Welthungerhilfe und Terre des Hommes erstellt. Gab es seitdem eine Verbesserung?

Jamann: Ja, die Entwicklungszusammenarbeit und -politik hat sich qualitativ extrem verbessert. Früher hieß das ja noch Entwicklungshilfe, heute spricht man von Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Generell ist natürlich diese Art von Entwicklungszusammenarbeit immer wieder auf dem Prüfstand. Und man fragt sich: Wie können wir wirksamer werden? Das war letztes Jahr das Thema. Was wirkt eigentlich wirklich? Und heute muss man sich die Frage stellen: Was sind eigentlich die politischen Dimensionen, die vielleicht wichtiger werden, als den einen oder anderen Brunnen mehr zu bauen. Und die Entwicklungszusammenarbeit ist da nicht nur hoch professionalisiert geworden, sondern mittlerweile rüttelt sie auch an politischen Grundfesten, und das ist auch gut so.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.



Hintergrund

Vor einer "schleichenden Marginalisierung der Entwicklungszusammenarbeit" haben die Hilfsorganisationen "Terre des Hommes" und Deutsche Welthungerhilfe gewarnt. "Es fehlt an konkreten Zielen, Fahrplänen, Indikatoren und Verbindlichkeit", sagte der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann, am Dienstag vor Journalisten in Berlin. Seiner Ansicht nach findet im Berliner Entwicklungshilfeministerium eine Überbewertung der Privatwirtschaft statt.



Nötig seien eine Neuausrichtung und ein "stimmiges Gesamtkonzept" der deutschen Entwicklungshilfe, so Jamann. Dabei müssten die Menschenrechte und die Prinzipien internatonaler Zusammenarbeit als Grundwerte anerkannt werden. Die "Terre des Hommes"-Vorstandsvorsitzende Danuta Sacher forderte die Bundesregierung auf, sich aktiv in die Suche nach alternativen Fortschrittsindikatoren und globalen Entwicklungszielen einzubringen. Nötig sei eine gemeinsame Reform der globalen Ziele der Entwicklungszusammenarbeit.



Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) verteidigte in einer Reaktion die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Sie habe sich als "der richtige Weg erwiesen". Es sei sinnvoll, "wenn Geberländer sich auf Schwerpunkte und ihre Stärken konzentrieren - regional wie thematisch - anstatt nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen".