Karl-May-Biograf über das Weltbild des Schriftstellers

Der katholische Protestant

Vor 100 Jahren starb Karl May. Der Vater von Winnetou, Old Shatterhand, Old Surehand, Old Firehand, Hadschi Halef Omar und vielen anderen Helden transportierte in seinem Werk ein "humanistisch-christliches Weltbild", sagt Helmut Schmiedt. Im domradio.de-Interview erklärt der Literaturwissenschaftler und May-Biograf, warum May zunächst als katholisch galt, selber aber später sagte, er "sei über solche konfessionellen Kleingeistereien erhaben".

 (DR)

domradio.de: Professor Schmiedt, ein Thema über das eher selten gesprochen wird, wenn von Karl May die Rede ist, ist die Rolle der Religion oder der Konfessionen in seinen Romanen. Er war von Haus aus ja evangelisch?

Schmiedt: Ja, er war von Haus aus evangelisch und er ist das auch Zeit seines Lebens geblieben, also er ist nie übergetreten. Aber er hatte, und das ist wahrscheinlich mehr oder weniger Zufall gewesen, seine ersten größeren literarischen Erfolge in katholischen Publikationsorganen, in katholischen Zeitschriften. Und man ging eigentlich davon aus, wenn das jemand tut, dann ist er katholisch. Es gab zum Beispiel eine berühmte Zeitschrift, auch heute noch wird sie oft genannt, die "Gartenlaube", die evangelisch war,  und dann gab es den "Deutschen Hausschatz", der katholisch war, und Karl May hatte seine Erfolge im "Hausschatz", galt deshalb als katholisch. Er hat sich auch nicht dagegen gewehrt, wenn etwa in Lexika oder Schriftstellerverzeichnissen hinter seinem Namen das "K" für katholisch auftauchte. Bis dann irgendwann mal herauskam, dass es sich so gar nicht verhielt, was man ihm auch vorgehalten hat.



domradio.de: Er hat aber auch mit seinem späteren Verleger ganz praktisch gedacht, er wollte seine Bücher ja verkaufen und hat dann, nachdem er zunächst in katholischen Kreisen seine Geschichten veröffentlicht hat, gesagt,  "jetzt müssen wir aber auch an die Protestanten denken" und entsprechend Werbung getrieben?

Schmiedt: Ja. Zunächst mal wurde auch diese Buchreihe bei seinem Verleger Fehsenfeld in erster Linie beim katholischen Publikum beworben mit empfehlenden Worten deutscher Bischöfe und anderer Geistlicher. Das war eindeutig an die Katholiken adressiert. Karl May hat dann aber später, beispielsweise als Fehsenfeld einen neuen Werbekatalog rausbrachte, mit ähnlicher Tendenz gesagt,  dass er das so nicht möchte, die Katholiken hätten sie ja als Leser,  jetzt müssten sie die Protestanten kriegen. Da müssten jetzt die deutlichen katholischen Akzentuierungen herausgestrichen werden.



domradio.de: Beschreiben Sie uns etwas näher den kulturgeschichtlichen Hintergrund. Diese sehr deutliche Trennung in die Lager von Protestanten und Katholiken ist ja so heute für uns kaum noch nachvollziehbar.

Schmiedt: Das zieht sich durch die ganze Geschichte des 19. Jahrhunderts, und es zieht sich eben nicht nur durch den im engeren Sinne kirchlich-religiösen-theologischen Bereich, es zieht sich auch durch die Politik, es zieht sich auch durch die Publikationen hindurch und zwar eben auch durch die Publikationen - etwa bei den Abenteuergeschichten -  bei denen man vordergründig denkt, es sei relativ gleichgültig, ob der Autor nun katholisch oder evangelisch sei, es zähle, dass ihm ordentlich was Spannendes und Amüsantes einfalle.

Aber das ist eben anders gewesen, und man kann tatsächlich auch in Mays Texten immer wieder diese religiösen Hinweise entdecken. Beispielsweise erzählt er in einer Geschichte aus "Durchs wilde Kurdistan", dass er - Kara Ben Nemsi -  in Rom den Papst gesehen habe und er sich darüber freue. Da könnte man dann daraus schließen, dass May vermutlich kein Protestant ist. Wenn er für katholische Marienkalender schreibt, die er auch zeitweise beliefert hat, dann sind das ganz überdurchschnittlich fromme Geschichten. Manchmal schon so fromme Geschichten, dass sie etlichen Lesern aus heutiger Sicht eher -  flapsig gesagt - ein bisschen auf den Geist gehen, weil da nun wirklich die Religiosität sehr drastisch aufgetragen wird. Das spielte damals schon eine bedeutende Rolle.

Der alte May hat sich davon gelöst, und als ihm vorgeworfen wurde, er habe sich als Protestant  immer als Katholik ausgegeben, hat er gesagt, er sei über solche konfessionellen Kleingeistereien erhaben und er sei einfach Christ und Mensch und das zähle.



domradio.de: Und so steht es ja auch eigentlich in seinen Büchern. Wenn er Nachsicht mit den ganz Bösen übt, die er immer wieder laufen lässt, oder wenn er im Orient, wo in seinen Romanen  immer wieder nach Blutrache geschrien wird, sagt "ich bin Christ, für mich ist Blutrache kein Thema." Wie wichtig sind ihm christliche Moral und christliche Gebote?

Schmiedt: Das ist ein interessantes Thema. Er verkörpert diese christliche, humanistische Moral inmitten all der Kämpfe, das tut er sogar zunehmend. In den frühesten Abenteuererzählungen ist das weniger ausgeprägt, aber es nimmt dann vor allem in den Texten der 90er Jahre in deutlicher Weise zu. Es gibt natürlich Literaturwissenschaftler, die darauf hinweisen, dass das auch einen sehr raffinierten erzähltechnischen Effekt hat, denn der Bösewicht, den ich laufen lasse und nicht bestrafe, der steht parat für das nächste Abenteuer, und das hat Karl May natürlich genau gewusst.



domradio.de: In seinem Spätwerk wird dieses christliche Sendungsbewusstsein dann noch deutlicher?  Stichwort  "Friede auf Erden"...

Schmiedt: Mit dem Roman "Friede auf Erden" hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Dieser Roman wurde ursprünglich veröffentlicht in einem Band "China".  Dieser Band sollte eine Art propagandistisches Begleitunternehmen zum Kampf gegen den Boxeraufstand werden, eine Erhebung, bei der die europäischen Kolonialmächte intervenierten - auch die Deutschen waren beteiligt -  und diesen Aufstand niederschlugen. Und dann hat der Herausgeber des Bandes, ein alter Bekannter von May namens Josef Kürschner, May gebeten, eine Erzählung, einen Roman beizusteuern, und hat wohl von May erwartet, dass er diesen Boxeraufstand eben auch propagandistisch attackieren würde und dass er das kolonialistische Eingreifen verteidigen würde.  Aber May hat sich völlig anders verhalten. Er hat einen Text geschrieben, der den Friedensgedanken in den Vordergrund stellte, in dem die Chinesen eigentlich die extrem positiv gezeichneten Figuren sind und ein christlicher Missionar gewissermaßen der Bösewicht schlechthin ist. Kürschner hat diesen Roman dann trotzdem genommen. Er brauchte ihn, um sein Band zu füllen, aber er hat sich in einem süß-sauren Vorwort dann deutlich von diesem Text Mays distanziert.



domradio.de: Wie modern ist Karl May mit seinen Ansichten von christlichem Humanismus heute noch? Passen sie noch in unsere Zeit?

Schmiedt: Von den Grundintensionen her passen sie in unsere Zeit, sind in manchem möglicherweise sogar vorbildlich. Ob das nun in allen Einzelheiten so ist, darüber wird man streiten. Er war halt ein Autor des 19. oder des beginnenden 20. Jahrhunderts. Aber sein Grundanliegen, das er entwickelt hat, zum Beispiel Konflikte friedlich zu lösen, zum Beispiel auch Toleranz gegenüber Anderen, anderen Kulturen, Religionen usw. zu pflegen, das ist etwas, was man sich heute durchaus zu Eigen machen kann.



domradio.de: Ein Autor des 19. Jahrhunderts zu sein, heißt, dass May auch etwas Missionarisches hatte? "Charlie, ich bin ein Christ!" sagt Winnetou, als er stirbt...

Schmiedt: Das ist dann die andere Seite. Und das fasziniert an Karl May: wenn man ihn irgendwo meint beim Wickel zu haben und guckt genauer hin, dann stellt man fest, es gibt eben auch eine andere Seite. Und Karl Mays Kritiker weisen natürlich auf diese in erster Linie hin.

Ja, Winnetou stirbt mit dem Bekenntnis zum Christentum. Karl May hat in der Old-Shatterhand-Legende sogar noch hinzugefügt, dass er Winnetou die Nottaufe gegeben habe, was nicht im Roman steht. Der orientalische Reisebegleiter Hadschi Halef Omar tritt damit auf, dass er seinem Freund Kara Ben Nemsi sagt: "ich werde dich zum Islam bekehren, du magst wollen oder nicht". Und am Ende heißt es, im Inneren sei er inzwischen auch Christ geworden. Da sagen natürlich Kritiker, das ist der Kolonialist Karl May, der kann sich eben doch den Fortschritt in der Welt nicht anders vorstellen, die Leute müssen sich auf seine Kultur, auf seine Religion einschwören und das tun selbst die, die eigentlich von ganz woanders herkommen.



domradio.de: Und irgendwie setzt sich ja der Kampf der Religionen, den May in seinen Orient-Romanen beschreibt, bis heute fort?

Schmiedt: Das ist eine ganz verzwickte Geschichte. Ich habe mal einen ägyptischen Karl-May-Doktoranten betreut, der in Deutschland über Karl Mays Orient- und Islambild arbeitete. Und der hat sich eigentlich, ich spitze es jetzt mal ein bisschen zu, die ganze Zeit geärgert und gesagt: "Dieser Karl May stellt alles falsch und schräg und entstellt dar und immer zu unseren Lasten." Das hat ihm überhaupt nicht gefallen. Auf der anderen Seite hat er aber in Deutschland jede Menge Leute gefunden, deren Interesse am Orient und am Islam durch Karl May geweckt worden war. Und es ist ja nun nicht recht einzusehen, wie das sein kann, wenn es nur diese eine Seite gibt. Er hat sogar Leute gefunden, die sind vom christlichen Glauben abgefallen und zum Islam konvertiert, nachdem sie Karl May gelesen hatten, obwohl an der Oberfläche der Islam ständig schlecht gemacht wird. Also das ist eine sehr, sehr komplizierte Geschichte. Die letzte Lösung für diese Fragen, die hat es in der May-Forschung noch nicht gegeben.



Das Interview führte Stefan Quilitz