Der melkitische Patriarch Gregoire III. Laham zur Lage in Syrien

Alle gegen alle

Den "Anfang eines Chaos" in Syrien sieht der melkitische Patriarch Gregoire III. Laham. Die Lage sei unberechenbar; "man weiß nicht, wer gegen wen kämpft", sagt der Patriarch. Vermeintliche Offiziere entpuppten sich als Banditen. Christen gerieten in Gefahr, ohne dass sie das eigentliche Ziel gewesen wären, so der Kirchenführer.

Gregoire III. Laham: Ehem. Melkitischer Patriarch  (KNA)
Gregoire III. Laham: Ehem. Melkitischer Patriarch / ( KNA )

KNA: Die Unruhen in Syrien dauern seit einem Jahr an, die Lage scheint immer komplizierter und vor allem gewalttätiger. Warum?

Gregoire III.: Am Anfang gab es große Kundgebungen, die Regierung griff hart durch, auch von den Demonstranten wurde angegriffen. Nach drei, vier Monaten gibt es kaum noch Kundgebungen. Dafür erleben wir den Anfang eines Chaos. Die Lage ist unberechenbar; man weiß nicht, wer gegen wen kämpft. Man weiß nicht, ob die Person, die einem gegenübertritt, wirklich die ist, die sie angibt zu sein. Da werden Geschäftsleute aufgefordert, ihre Läden zu schließen. Ein Offizier gibt an, von der Armee zu sein, und entpuppt sich als Bandit.Christen sind in Gefahr geraten, ohne dass sie das eigentliche Ziel gewesen wären.



KNA: Entwickelt sich in Syrien ein konfessioneller Bürgerkrieg?

Gregoire III.: Wir sehen im Inneren die Entwicklung hin zu einem Kampf der Religionen. Nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern unter den Muslimen. Aleviten gegen Sunniten, das ist ganz klar. In den vergangenen Monaten deutet Vieles darauf hin, dass die Christen in den Konflikt hineingezogen werden sollen.



KNA: Sind auch Christen von der Gewalt betroffen?

Gregoire III.: Wir haben Opfer. In Kusayr bei Homs, kürzlich in Habab. Es trifft Leute von der Regierung, Offiziere, aber auch Privatpersonen. Es trifft Leute, die nicht an Kundgebungen gegen die Regierung teilnehmen wollen und denen man deswegen vorhält, zur Regierung zu halten. Priester Basilus wurde getötet, als er einem Mann helfen wollte. Zwei Priester waren für einige Zeit inhaftiert. Ich bin aber noch immer überzeugt, dass die Christen nicht das eigentliche Ziel sind, sondern von allen Seiten als "Gewinn" angesehen werden. Ob Salafist oder Islamist: Jeder sagt, er unterstütze die Christen.



KNA: Könnten die Christen also als Vermittler wirken?

Gregoire III.: Die drei Patriarchen von Damaskus haben am 15. Dezember eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Darin rufen wir zur Versöhnung auf, zum Dialog und dazu, Menschenleben zu retten. Die Christen waren immer sehr offen für ihre Nachbarn. Aber welche Vermittlerrolle können wir heute noch spielen? Im Chaos bist du verloren.



KNA: Ist denn das ganze Land in Aufruhr?

Gregoire III.: Die gewaltsamen Konflikte sind begrenzt. Nicht überall in Syrien geht es gewaltsam zu. Doch wenn man die Berichte von außen hört und die Reaktionen der Politiker, meint man, das ganze Land brenne. Ja, die Lage ist gefährlich, weil Fronten entstanden sind: durch das Veto von Russland und China auf der einen Seite und Europa und die USA auf der anderen Seite.



KNA: Der Regierung wird Gewalt gegen das eigene Volk vorgeworfen. Soll sich die internationale Gemeinschaft einschalten?

Gregoire III.: Es gibt für uns nicht mehr die Möglichkeiten, frei zu handeln und zu entscheiden. Egal, was die syrische Regierung macht und wie sie sich verhält: Sie wird für alles schuldig gesprochen. Die Konfrontation zwischen den Großmächten verschlimmert die Lage hier.



KNA: Aber ist nicht die Regierung in Damaskus für die Gewalt verantwortlich?

Gregoire III.: Es gibt hier Desinformation und Manipulation. Es gibt viele Kriminelle, die die derzeitige Lage ausnutzen. Es gibt viel mehr Waffen, und: Ja, die Bevölkerung ist von der Regierung enttäuscht. Die einen machen sie verantwortlich für Gewalt; die anderen sagen, die Regierung hilft uns nicht gegen die Gewalt von Kriminellen und bewaffneten Gruppen. Menschen haben ihre Arbeit verloren, sogar Schulen wurden geschlossen. Die Menschen können sich nicht mehr frei bewegen, es gibt keinen Strom mehr, kein Heizöl. Deswegen gibt es ja die Forderung, humanitäre Korridore einzurichten.



KNA: Warum sollen solche Korridore geschaffen und Leute und Hilfe von außen gebracht werden?

Gregoire III.: Die Bewaffneten müssen den Weg frei machen, damit Lebensmittel und Hilfe zu den Menschen gelangen kann. Es gibt genug Brot, es gibt genug Mehl - aber es erreicht die Menschen nicht. Ich bekomme unzählige Anrufe aus Homs, aus Kusayr. Ich höre meine Priester, Laien, Verwandte, Bekannte, die mir direkt berichten.

Entführung von Menschen ist eine Mode geworden. Die Leute erzählen mir, dass nur 100 Meter von ihrem Haus entfernt ein Geschäft ist.



Aber sie gehen nicht hin, weil sie Angst haben. Man braucht keinen Korridor, um dieses Geschäft zu erreichen. Die bewaffneten Gruppen zwingen die Ladenbesitzer, ihre Geschäfte zu schließen. Es ist nicht die Regierung, die die Menschen dazu zwingt. Öl-Pipelines, Tankstellen, Transporter, Züge und Zuglinien wurden zerstört - und niemand sagt ein Wort dazu! Nicht einmal Deutschland, nicht einmal Frankreich. Ich lese Berichte von allen Seiten, aber kaum ein Wort über die vielen Zerstörungen. Kaum ein Wort über die bewaffneten Gruppen, die unser Alltagsleben zerstören.



Das Interview führte Karin Leukefeld.