Jesuiten-Flüchtlingsdienst über die steigende Zahl der auf der Flucht ertrunkenen Einwanderer

Ein trauriges Rekordjahr

Menschen, die Aufgrund der politischen Zustände, die aus ihrer Heimat flüchten müssen, verlieren dabei nicht nur ihre Existenz und ihre Heimat, sondern in vielen Fällen auch ihr Leben. Mehr als 1500 Menschen sind im vergangenen Jahr auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken oder verschwunden. Dazu im domradio.de-Interview: Pater Martin Stark vom Jesuiten Flüchtlingsdienst Deutschland.

 (DR)

domradio.de: 58.000 Menschen sind im letzten Jahr übers Mittelmeer nach Europa gekommen, 1.500 mussten dabei ihr Leben lassen. Ein trauriges Rekordjahr. Warum ?

Pater Martin Stark: Weil sie diese Überfahrt wagen müssen in diesen kleinen Booten, weil es sonst keinen anderen Weg gibt nach Europa, und nur wenn man sich hier auf europäischem Boden befindet, kann man einen Asyl-Antrag stellen.



domradio.de: Die Flüchtlinge kommen mit Booten, die unter Umständen unterwegs sind, die unvorstellbar sind. Neben der Tatsache, dass sie wenig seetüchtig sind... Was passiert auf diesen Booten? Was müssen Menschen da aushalten?  

Pater Martin Stark: Das Problem ist erstmal, dass die Boote nicht geeignet sind, das sind irgendwelche Fischerboote, die voll und überbelegt sind, also wo die Menschen sich zusammen kauern und nicht nur Stunden, sondern tagelang unterwegs sind. Nicht ausgestattet mit den nötigen Lebensmitteln und so weiter und so fort. Und dann bei rauer See eben in Seenot geraten und oftmals Seenot-Signale nicht wahrgenommen werden, sprich, dass die Füchtlinge nicht aufgenommen werden von Booten, Hilfsignale nicht weiter gegeben werden an den Küstenschutz und die Menschen dann eben nicht gerettet werden, sondern immer, wie jetzt gerade neu in den letzten Tagen, Flüchtlinge ertrinken, Leichen gefunden werden. Das ist ein skandallöser Zustand.  



domradio.de:  Was muss in einem Menschen vorgehen, um sich für so eine Möglichkeit der Flucht aufzumachen - also, ein abgehalftertes Schiff zu besteigen, auf dem sie unter menschenunwürdigen Umständen ihre Flucht antreten?  

Pater Martin Stark: Viele von denen sind somalische Flüchtlinge, die auch in Lybien gelebt haben, aber dort nicht mehr zurückkommen können und in den Nachbarländern festsitzen. Sie wissen keinen anderen Ausweg, als dann diesen Weg mit den Booten anzutreten. Der UNHCR spricht davon, dass 5.000 solcher Flüchtlinge, auch wirklich Flüchtlinge sind, wo ein Schutzbedürfnis feststeht. Sie sitzen in den Nachbarländern fest, in Tunesien oder an der Grenze zu Ägypten. Es steht fest, sie brauchen Schutz. Aber es gibt nur wenige Länder, die bereit sind, sie aufzunehmen.



domradio.de: Was muss geschehen, damit zumindest diese gefährliche Flucht übers Meer verhindert wird und die Flüchtlinge trotzdem die Möglichkeit haben, einen Asylantrag in Europa zu stellen?

Pater Martin Stark: Es muss andere, legale Möglichkeiten geben, nach Europa hineinzugelangen. Deutschland hat sich bereit erklärt, in den nächsten 3 Jahren jeweils 100 dieser Flüchtlinge aufzunehmen, das ist ein erster Anfang. Das ist auch gut, aber es ist natürlich eine sehr geringe Zahl. Die USA nimmt allein 3.000 auf einen Schlag auf. Ich finde, Deutschland könnte eine höhere Zahl aufnehmen, wir stehen da einfach in Verantwortung und die Kapazitäten sind da, dass wir da helfen könnten.



Das Interview führte Christian Schlegel.



Hintergrund

Mehr als 1.500 Menschen sind im vergangenen Jahr auf der Flucht über das Mittelmeer oder beim Versuch einer illegalen Einreise nach Europa ertrunken oder verschollen. Damit sei 2011 "das tödlichste Jahr" seit Beginn der Statistik 2006, erklärte eine Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) am Dienstag in Genf. Die bislang höchste Zahl von Todesopfern gab es demnach 2007 mit 630 Vermissten oder Ertrunkenen. Im laufenden Jahr seien 18 Menschen auf dem Seeweg von Libyen nach Europa umgekommen.



Örtliche UNHCR-Teams in Griechenland, Italien, Libyen und Malta gingen davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Toten höher sein könnte. Die Angaben des Hilfswerks fußten auf Befragungen von Immigranten, Nachrichten von Angehörigen und Berichten von Überlebenden in Libyen und Tunesien.



Auch die Zahl der illegal Eingereisten, Asylsuchenden und Flüchtlinge an Europas Südküsten habe mit 58.000 einen neuen Rekord erreicht. Der bisherige Höchststand sei 2008 gewesen. Damals hätten 54.000 Menschen Griechenland, Italien und Malta erreicht. 2009 und

2010 sei die Zahl der Ankünfte aufgrund schärferer Grenzkontrollen stark eingebrochen. 2011 sei der Strom der Bootsflüchtlinge wieder stark angewachsen, als die Regime in Tunesien und Libyen stürzten.



Die Mehrheit der Flüchtlinge und Migranten von Nordafrika landete laut UNHCR in Italien. Von den dort angekommenen 56.000 Menschen stammten 28.000 aus Tunesien. Malta hätten 1.574 Menschen erreicht, Griechenland 1.030. Der Großteil der Personen sei in der ersten Jahreshälfte angekommen; die meisten von ihnen würden als Migranten eingestuft, nicht als Asylsuchende oder Flüchtlinge.



Seit Mitte August habe man nur noch drei Boote von Menschenschmugglern aus Nordafrika registriert. Trotz hoher See und schlechter Wetterbedingungen hätten die Schiffe die Überfahrt versucht, so die UNHCR-Sprecherin. Ein Boot mit 55 Insassen sei verschollen.



Das Flüchtlingshilfswerk unterstütze Bemühungen der italienischen, maltesischen und libyschen Regierung, in Schwierigkeiten geratene Boote im Mittelmeer zu retten, sagte die Sprecherin. Zugleich rief das UNHCR Schiffsführer auf, wachsam zu bleiben und "ihre Pflicht zur Rettung von Schiffen in Seenot zu erfüllen".