In Ägypten haben die Wahlen begonnen

"Gottesstaat? Die Frage stellt sich jetzt erst mal nicht"

Dreißig Jahre Diktatur hat Ägypten hinter sich – nun haben die ersten freien Parlamentswahlen begonnen. Felix Eikenberg, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kairo, schätzt im Interview mit domradio.de die Aussichten für das Land ein.

 (DR)

domradio.de: Wie schätzen Sie das ein - gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Unruhen - können das überhaupt wirklich freie und faire Wahlen werden, so wie wir uns das vorstellen?.

Eikenberg: Es ist schon möglich, dass die Wahlen überwiegend frei und fair werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwar viele Menschen sind, die auf dem Tahrir-Platz in den letzten Tagen demonstriert haben, aber lange nicht so viele wie noch zu Jahresbeginn. Und in den größten Teilen der Stadt hat man überhaupt nichts von den Protesten mitbekommen. Die meisten Ägypter sind also nicht zu den Protesten gegangen. Und gerade heute, am ersten Tag der Parlamentswahlen in einem Drittel der Provinzen, sieht man, dass die Wahlbeteiligung riesig ist. Die Menschenmassen sind vor den Wahllokalen und nicht am Tahrir-Platz.



domradio.de: Gibt es dort noch immer Proteste?

Eikenberg: Es gibt noch einige Proteste dort, aber schon sehr viel weniger als in den vergangenen Tagen.



domradio.de: Das Prozedere der Wahlen ist ziemlich kompliziert  - mit endgültigen Ergebnissen wird erst im Februar gerechnet. Warum ist das so?  

Eikenberg: Das liegt daran, dass die Wahlen über drei Etappen verteilt wurden. Das Land, das aus 27 Provinzen besteht, wurde in drei Gruppen eingeteilt, so dass jeweils in einem Drittel der Provinzen Wahlen stattfinden. Das gab es auch schon mal 2005 und soll sichern, dass die Richter, die die Aufsicht über die Wahl haben, auch überall vertreten sein können. Und jede Etappe besteht noch einmal aus zwei Unteretappen. Heute und morgen ist die erste Etappe, bei der die Direktmandate und die Listen schon bestimmt werden. Allerdings wird es einigen Wahlkreisen Stichwahlen geben müssen. Nach Auszählung der Direktmandate wissen wir dann, ob in einigen Kreisen noch Stichwahlen stattfinden. Erst dann ist die erste Etappe richtig beendet. Erst am 11. Januar ist der komplette Wahlprozess vorüber. Erst dann werden die Ergebnisse der Listenwahlen bekannt gegeben. Das Verfahren ist neu, so hat es das noch nicht gegeben. Und es ist sehr kompliziert und für die Wähler nicht immer zu verstehen.



domradio.de: Und muss man nicht befürchten, dass eine doch relativ lange Zeit der Unsicherheit einer Stabilisierung des Landes entgegensteht?

Eikenberg: Das ist eine Erwägung dabei. Aber gleichzeitig ist der Zweck dieser Streckung, dass die Richter überall dabei sein können. Es ist eher umgekehrt: Wenn alles auf einen Schlag stattgefunden hätte, hätte das die Möglichkeiten überfordert, was die Aufsicht und die Gewährleistung von Sicherheit angeht.  



domradio.de: Aller Voraussicht nach werden am Ende die Muslimbrüder den Wahlsieg davontragen -  das bereitet nicht nur vielen im Westen, sondern auch vielen Ägyptern Magendrücken. Ägypten als islamistischer Gottesstaat - ist das in Ihren Augen eine reale Gefahr?

Eikenberg: Die Frage stellt sich jetzt erst mal nicht. Solange die neue Verfassung nicht ausgearbeitet ist, hat das Parlament auch noch nicht viele Befugnisse. Das Parlament soll einen Rat berufen, der die neue Verfassung ausarbeitet. Die Macht liegt alleine in den Händen der Militärs. Wenn die neue Verfassung da ist, sehen wir klarer. Gleichwohl ist es richtig, dass die Muslimbrüder erstarken werden. Und nicht nur die, es gibt ja noch die radikalen Kräfte: die Salafisten. Wie die abschneiden werden, bleibt abzuwarten. Wie auch immer: Ägypten ist ein Staat mit einer langen Tradition von Staatlichkeit. Hier wird es nicht von einem Tag auf den anderen einen großen Schwenk geben. Es gibt auch zahlreiche Kräfte, die liberal, säkular und demokratisch orientiert sind. Und die Muslimbrüder setzen auf langsame Reformen und Veränderungen und nicht auf revolutionäre Änderungen.



Das Gespräch führte Hilde Regeniter.