Amerikas bedächtigster Feiertag wird vom Konsumrausch bedroht

Truthahnbraten und Dankbarkeit

Für Millionen Amerikaner ist heute der schönste Tag des Jahres: am Thanksgiving Day, der amerikanischen Variante des Erntedankfests, dreht sich alles um die Familie. Viele Menschen legen weite Strecken zurück, längst erwachsene Kinder fliegen quer über den Kontinent, um wieder bei ihren Eltern zu sein - der Vortag und der folgende Sonntag sind belebte Tage auf amerikanischen Flughäfen.

Autor/in:
Ronald Gerste
 (DR)

Thanksgiving ist kein primär religiöser Feiertag, sondern eine nationale Tradition, mit der an das wohl eher der Legende als den historischen Tatsachen zuzuschreibende erste Erntedankfest der puritanischen Siedler in Neu-England 1621 erinnert werden soll. Bei der Zusammenkunft der Familien um den traditionellen Truthahnbraten soll auch heute noch Dankbarkeit im Mittelpunkt stehen - ein Abend der Ruhe in einem sonst oft so hektischen Land, ein paar Stunden der Einkehr, die dem Feiertag die Sympathien praktisch aller Religionsgemeinschaften in den USA eingebracht haben. Doch diesmal droht dem stillem herbstlichen Abend, dem sich ein schulfreier Tag für die Kinder und für viele ein langes Wochenende anschließt, ein Angriff der Konsumgüterindustrie.



In dem von Arbeitslosigkeit und ökonomischer Krise geplagten Land ist inzwischen fast jede Maßnahme, die eine Stimulation der Wirtschaft bedeuten könnte, über Kritik erhaben. Bislang hat Amerikas nach Kunden hungernde Konsumgüterindustrie den Bürgern zumindest Gelegenheit gegeben, den "Turkey" halbwegs zu verdauen: der Start der Weihnachtseinkaufssaison war traditionell der Freitagmorgen, der sogenannte Black Friday. Manchmal sehr früh, schon gegen 5 Uhr, öffneten die großen Kaufhäuser und Shopping Malls ihre Türen und lockten die Weihnachtseinkäufer mit Sonderangeboten.



Dieses Jahr wird mit dieser Tradition gebrochen. In vielen Orten öffnen die großen Einkaufszentren bereits um Mitternacht und überschlagen sich mit Preisreduzierungen. Einige Megaketten entdecken selbst den Thanksgiving-Abend für sich. WalMart, nicht gerade bekannt für gediegene Sozialleistungen seinen Angestellten gegenüber, erwartet, dass die Mitarbeiter um 22 Uhr die Tore zu den Geschäften öffnen und trotz des Verzichts auf die Familienfeier den erhofften Käuferansturm in Festtagslaune bedienen. Noch eine Stunde früher will die Spielzeugkette "Toys"R"Us" öffnen.



Proteste gegen Profitgier

Ob dieser Angriff auf eine amerikanische Tradition aus Streben nach Profit wirklich Erfolg hat, wird sich erst in der Bilanz zeigen. Vielerorts ist unterdessen Kritik laut geworden. In Leitartikeln der Zeitungen wird Lesern nahegelegt, den Sonderangeboten in dieser Nacht zu widerstehen. Umfragen zufolge unterstützt die Bevölkerung diesen Standpunkt: 87 Prozent der Amerikaner geben demnach an, das Zusammensein mit ihren Familien sei ihnen an Thanksgiving wichtig. Gerüchten zufolge will die Protestbewegung "Occupy Wall Street" in jener Nacht gegen die Profitgier der Kaufhausketten demonstrieren und einzelne Filialen blockieren.



Immerhin: Nicht alle großen Namen der amerikanischen Konsumszene machen mit. Der Kaufhauskonzern Nordstrom, dessen Filialen sich in jeder größeren Mall finden, wird erst am Freitagmorgen öffnen und auch erst dann die Weihnachtsdekorationen anbringen. Viele Kirchen, darunter auch fast alle katholische Gemeinden, laden am Thanksgiving Day wie gewohnt zu Andachten und zur Messe ein, typischerweise in den Morgenstunden. Und weisen vielleicht hier und dort darauf hin, dass das erste Erntedankfest nicht von den Puritanern gefeiert wurde - sondern möglicherweise bereits Jahre zuvor von spanischen und somit katholischen Siedlern auf dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaates New Mexico.