Die Caritas kritisiert den Pflegekompromiss der Bundesregierung

Das versuchte Reförmchen

Die Caritas hat ihre Kritik am Pflegekompromiss der Bundesregierung verteidigt. Die Koalition habe "sich lediglich auf die Erhöhung des Beitrags geeinigt", so Caritas-Präsident Peter Neher im domradio.de-Interview. Um eine Reform handele es sich dabei nicht.

 (DR)

domradio.de: Warum halten sie diese "Pflegereform für nicht ausreichend"?

Neher: Der Begriff Pflegereform ist einfach schon nicht richtig. Die Koalition hat sich lediglich auf die Erhöhung des Beitrags geeinigt. Eine wirkliche Reform, die ja schon seit Jahren ansteht, müsste sich auf jeden Fall damit beschäftigen, wie es gelingen kann, Menschen mit Demenzerkrankungen und ihren Angehörigen zu helfen, d.h. mit einem neuen Begriff von Pflegebedürftigkeit, der nicht nur die körperlichen Gebrechen aufgreift, sondern eben auch die psychischen Probleme, die gerade oft demenzkranke Menschen haben, die müssen anders aufgegriffen werden. Und das ist in dem Vorliegenden so nicht der Fall.



domradio.de: Wenn der Pflegebeitrag um 0,1 % erhöht wird,  bringt dies eine Milliarde mehr, die für die Pflege Demenzkranker ausgegeben werden soll - das  klingt erst mal nach viel Geld, eine Milliarde - warum reicht das immer noch nicht aus?

Neher: Eine Milliarde ist ja auch tatsächlich nicht nichts. Aber es reicht nicht. Denn der Pflegebeirat hat ja in seinen Berechnungen schon vor Jahren festgestellt, dass mindestens eine Erhöhung um 0,16 Punkte notwendig wäre, das wären etwa 1,6 Milliarden Euro. Denn gerade wenn es um Menschen mit Demenz geht, brauchen die Mitarbeitenden viel Zeit und Geduld, um ihnen gerecht zu werden. Und das kostet Geld! Aber auch die Angehörigen, die jemanden haben mit einer Alzheimererkrankung, brauchen eine Entlastung. Insofern ist die eine Milliarde nicht nichts, aber sie reicht nicht.



domradio.de: Was würden Sie den vorschlagen - reichen die 0,16 Prozent Erhöhung?

Neher: Es geht jetzt nicht nur um finanzielle Vorschläge. Die sind sicherlich wichtig, aber wir können in der ganzen notwendigen Reform der Pflege nicht immer nur übers Geld reden, das greift einfach zu kurz. Noch mal: Die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, der seit drei Jahren angemahnt wird, ist jetzt notwendig. Diese grundsätzliche Fragestellung ist in Angriff zu nehmen. Schon der frühere Gesundheitsminister Rösler hat groß ein Jahr der Pflege ausgerufen. Vor dem Hintergrund wird das, was jetzt geliefert wird, dem in keiner Weise gerecht.



domradio.de: Die Menschen werden immer älter, was auch bedeutet, das mehr Menschen im hohen Alter Pflegebedürftig werden. Wie muss eine menschenwürdige Pflege aussehen?

Neher: Alter bedeutet nicht automatisch Pflege. Aber Menschen wünschen sich natürlich, dass sie auch im Pflegefall zuhause bleiben können. Und da braucht es anderer Vernetzungssysteme: Wir brauchen eine bessere, abgestimmtere Form der Begleitung und Finanzierung von ambulant, stationär und teilstationär. Wir müssen die Angehörigen unterstützen, wir brauchen ein System, in dem die Nachbarn mit einbezogen sind, in dem einfach andere Personengruppen mit drin sind. Schlicht: einen neuen Blick auf Pflege, auf das Alter als einen selbstverständlichen Teil des Lebens, der nicht immer nur als Kostenfaktor im Blick sein darf. Wir müssen Menschen mit einbeziehen und nicht ausgrenzen.



Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.



Hintergrund:

Die Koalitionsspitzen von CDU, CSU und FDP hatten sich am Sonntagabend bei ihrem Treffen im Bundeskanzleramt darauf verständigt, den Beitragssatz für die Pflegeversicherung zum 1. Januar 2013 um 0,1 Prozentpunkte anzuheben. Die Mehreinnahmen in Höhe von 1,1 Milliarden Euro sollen unter anderem in zusätzliche Angebote zur Betreuung von "Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz" fließen. Den Bedürftigkeitsbegriff in der Pflege will die Bundesregierung bis Herbst 2013 überarbeiten. Außerdem sollen ab 2013 analog zur Riester-Rente Möglichkeiten der privaten Vorsorge für den Fall einer Pflegebedürftigkeit steuerlich gefördert werden.



Zuvor hatten bereits mehrere Sozialverbände die Vereinbarungen scharf kritisiert. Der Paritätische Wohlfahrtsverband wertete sie als "Kapitulation" und kritisierte vor allem die Pläne zur privaten Zusatz-Vorsorge. "Das Riester-Modell schützt bereits in der Rente nicht vor Altersarmut und wird in der Pflege noch weniger helfen", hieß es. Ähnlich äußerte sich der Sozialverband VdK.



Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) begrüßte zwar die verbesserten Leistungen für Demenzkranke, "doch wir vermissen konkrete Aussagen, was das genau für die Betroffenen bedeutet". Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) beurteilte die Ergebnisse des Koalitionsgesprächs als enttäuschend. Damit sei das vom damaligen Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) angekündigte "Jahr der Pflege" vorzeitig beendet.



Die SPD forderte unterdessen die Einführung einer solidarischen Pflegeversicherung, um auch benachteiligten Menschen den Zugang zu Pflegeleistungen zu erhalten. In einem Interview des "Tagesspiegel" (Dienstag) sprach sich der Gesundheitsexperte der Partei, Karl Lauterbach, für personelle Konsequenzen aus. Er forderte den Rücktritt von Jürgen Gohde. Der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe und frühere Präsident des Diakonischen Werkes steht an der Spitze eines Beirates, der die Bundesregierung bei der Pflegereform berät. Laut "Tagesspiegel" will Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) das aus 35 Experten bestehende Gremium jetzt erneut einberufen.