Kairo zeigt auch: Ägyptens Jugend hört nicht mehr auf die Alten

Instabile Ordnung

Noch immer ist nicht geklärt, wer den ersten Stein geworfen hat am Sonntagabend vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens in Ägyptens Hauptstadt Kairo. Eines spiegelt die Eskalation der Gewalt auf jeden Fall wider: Die ägyptische Gesellschaft ist in vollem Umbruch.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Die Fernsehbilder steigen erst später ein: Zu sehen sind prügelnde Soldaten, aufgebrachte Christen mit Steinen und Kreuzen als Waffen, Muslime, die auf Christen losgehen. Die Christen beteuern ihre Unschuld: Ihre friedliche Demonstration gegen islamistische Übergriffe und Unrecht sei angegriffen worden. Medien, auch staatliche, berichten dagegen, die Christen hätten die Gewalt provoziert.



Nicht, dass es nicht seit Jahren immer wieder Übergriffe auf die Minderheit der koptischen Christen gegeben hätte. Doch seit dem Sturz des Langzeit-Regimes Mubarak fehlt derzeit jeder behördliche Puffer zwischen Militär und Bevölkerung; die öffentliche Ordnung ist instabil. Gesellschaftliche Gruppen aller Art bringen sich für das neue Ägypten in Stellung - und wie überall ist es nicht der bürgerliche, friedliche "common sense", der die Töne angibt.



Die Friedenspflicht scheint abgelaufen

Das ägyptische Militär, wichtiger Macht- und Ordnungsfaktor schon unter Mubarak, hatte den gesellschaftlichen Aufbrüchen, den Manifestationen und Demonstrationen in den ersten Monaten nach dem Sturz der alten Ordnung zunächst zugesehen. "Nun scheint es, dass nach dem Ramadan die Friedenspflicht abgelaufen ist", schätzt Frank van der Velden, Theologe in der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Kairo. Armee und Teile der Nachbarschaft seien offenbar nicht mehr gewillt, ungeliebte Demonstrationen, etwa der koptischen Christen, zu tolerieren.



Und noch ein allgemeines Phänomen macht van der Velden aus, der schon seit vielen Jahren in Kairo lebt: Die Jugend hat beim Volksaufstand gegen den diktatorisch regierenden Mubarak die Scheu vor den älteren Generationen abgelegt. Sie wollen ihre Zukunft aktiv mitgestalten - und sich nicht mehr von den Alten sagen lassen, wie sie sich zu verhalten haben.



Das kann sich darin äußern, dass junge Musliminnen ihren Schleier ablegen - oder eben in massiver werdenden Kundgebungen junger koptischer Christen. Sie argumentieren, auf dem Tahrir-Platz hätten alle Ägypter gemeinsam gekämpft, ohne Ansehen ihrer Religion. "Dass es bei der Revolution keinerlei religiöse Agenda gab, hat viele Menschen ermutigt", sagt van der Velden. Nun mag kein junger Christ mehr hinnehmen, in seiner Religionsausübung eingeschränkt oder gar angegriffen zu werden.



Absage an den politischen Kurs des Kopten-Papstes

Der Mut, auf die Straße zu gehen, ist auch eine Absage an den politischen Kurs des greisen Kopten-Papstes Schenuda III. Schon während der langen Mubarak-Jahre, aber auch noch während der dramatischen Tage am Tahrir-Platz warnte der heute 88-Jährige immer wieder vor öffentlichen Manifestationen. So könne die christliche Minderheit ihren bescheidenen Status quo am besten wahren und sich vor Übergriffen islamistischer Kräfte schützen. Doch nun, nach dem "gemeinsamen Sieg aller Ägypter", reicht es den Jungen nicht mehr, in der Nische einer stillen Parallelgesellschaft darauf zu hoffen, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. "Euren Status quo, den haben wir gesehen", sagen sie.



Doch es zeigt sich derzeit auch die Kehrseite der Euphorie, die die siegreichen Tage der Revolution erzeugt haben. Nicht nur, dass die staatlichen Regelungssysteme fast vollständig fehlen. Auch die seit langem angelegten wirtschaftlichen Probleme des Landes sind nicht bewältigt und sorgen für Ernüchterung des "Wir können was erreichen"-Gefühls. Die vielfältigen Mangelsituationen erhöhen den Erwartungsdruck auf die bessere Zukunft - und veranlassen inzwischen immer mehr junge Ägypter, sich in die Schlangen der Ausreisewilligen vor den ausländischen Konsultaten einzureihen. Wer bleiben will, der bringt sich so gut es geht in Position - ohne zu viel auf den Rat der Alten zu hören.