Evangelische Kirche bittet Heimkinder öffentlich um Verzeihung

"Kirche und Diakonie sind schuldig geworden"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hat ehemalige Heimkinder im Namen der EKD und des Diakonischen Werks öffentlich um Verzeihung gebeten für das Leid, das ihnen in evangelischen Heimen angetan worden ist.

Autor/in:
Bettina Markmeyer
 (DR)

In der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin verlas Schneider, der auch rheinischer Präses ist, am Sonntag eine gemeinsame Erklärung. "Kirche und Diakonie sind schuldig geworden vor denen, die uns anvertraut waren, und vor Gott", heißt es darin.



Als ehemaliges Heimkind würdigte Sonja Djurovic die Bitte um Verzeihung als ein "Zeichen der Versöhnung". Viele der Betroffenen wollten die Hand ergreifen, die ihnen gereicht werde und sehnten sich nach persönlichem Frieden. Zugleich warb Djurovic um Verständnis für ehemalige Heimkinder, die die öffentliche Entschuldigung nicht annehmen wollen. Sie forderte erneut eine Entschädigung der Opfer, die über die vom Bundestag beschlossenen Hilfen aus einem 120-Millionen-Euro-Fonds hinausgehen müsse. "Viele von uns sind enttäuscht", sagte Djurovic. "Was beschlossen wurde, geht uns nicht weit genug."



Proteste

Mehrere ehemalige Heimkinder hatten die Veranstaltung zuvor unter Protestrufen verlassen. Sie warfen der Kirche eine Relativierung des Unrechts in den Heimen vor. Der 57-jährige Göttinger Udo Trost sagte, solange er bei seinen Versuchen, seine eigenes Schicksal zu erforschen, noch abgewimmelt werde, sei die öffentliche Bitte um Entschuldigung "eine Schaufensterveranstaltung". Wie andere Heimkinder auch forderte Trost eine Entschädigung.



Der EKD-Ratsvorsitzende Schneider räumte ein, dass erst "ein Anstoß von außen" - Journalistenrecherche und Berichte der Betroffenen - dazu geführt habe, Kirche und Diakonie die Augen zu öffnen. Der Theologe versicherte, die evangelische Kirche werde den begonnenen Weg der Aufarbeitung weitergehen. Er würdigte die "Größe" der Heimkinder, die ihre Lebensgeschichten öffentlich machten und dadurch das Ausmaß des Leidens verdeutlicht hätten. "Vor dieser Größe verneige ich mich", sagte Schneider.



Versagen bekennen

Was in evangelischen Heimen "an Fehlverhalten geschehen ist, steht deutlich in Widerspruch zu unseren christlichen Überzeugungen", so

Schneider: "Es fällt uns schwer und es ist schmerzlich, dieses Versagen zu bekennen." Die evangelische Kirche werde sich an der Bereitstellung von Hilfen und materieller Unterstützung der Opfer beteiligen. Dabei sei ihr bewusst, dass sie verlorene Lebenschancen nicht wieder gutmachen könne.



   Rund 800.000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und Mitte der 70er Jahre in bundesdeutschen Heimen, etwa 500.000 von ihnen in kirchlichen Einrichtungen. Viele wurden durch emotionale Vernachlässigung, Demütigungen, Strafen und Prügel sowie sexuelle Gewalt traumatisiert. Jugendliche wurden zu harter Arbeit ohne Lohn gezwungen.



Systematisch begangenes Unrecht

Sonja Djurovic betonte in ihrer Ansprache, "Verzeihung" müsse wachsen und geschehe nicht von heute auf morgen. Sie hoffe, dass der Dialog zwischen Kirche und Heimkindern weitergeführt werde. Djurovic betonte, die Kirchenvertreter von heute seien nicht die Täter von gestern. Kirche und Diakonie stünden aber als Träger der Heime in der rechtlichen und moralischen Verantwortung.



Heimkinder seien Opfer von systematisch begangenem Unrecht geworden, sagte Djurovic, die als Jugendliche in einem von Diakonissen geführten bayerischen Mädchenheim eingesperrt war. Ob sie die Bitte um Verzeihung annehmen könnte, werde sich daran messen lassen müssen, was Kirche und Diakonie unternähmen, um die geplanten Hilfen aus dem Fonds den betroffenen auch wirklich zukommen zu lassen.



Der Bundestag hat auf Empfehlung des Runden Tisches einen 120-Millionen-Hilfe-Fonds für ehemalige Heimkinder beschlossen, der je zu einem Drittel von den Kirchen, dem Bund und den Ländern finanziert wird. 100 Millionen Euro sind für individuelle Hilfen vorgesehen, 20 Millionen Euro für Rentennachzahlungen. Die Gelder sollen ab 2012 ausgezahlt werden.