Misereor-Experte zur Hungerkatastrophe in Ostafrika

"Erst sterben die Tiere, dann die Kinder, dann die Eltern"

Nach Einschätzung des äthiopischen Agrar-Experten Atsbaha Gebre-Selassie bleibt die Situation in den Dürregebieten seiner Heimat weiterhin kritisch. Die Tatsache, dass inzwischen Regen gefallen sei, verschärfe die Situation eher, als sie zu verbessern. "Krankheiten wie Malaria oder Durchfallerkrankungen breiten sich unter den vom Hunger geschwächten Menschen aus", warnt der Misereor-Mitarbeiter.

 (DR)

KNA: Herr Gebre-Selassie, wie ist die aktuelle Situation in Äthiopien?

Gebre-Selassie: Die Situation in den Dürregebieten ist weiterhin angespannt. Allein in Äthiopien sind etwa 4,5 Millionen Menschen akut betroffen und von Lebensmittelhilfen abhängig. Vor allem in der Somaliregion Äthiopiens und in Oromia, dem größten und bevölkerungsstärksten Teil des Landes, hungern die Menschen. Besonders hart getroffen hat es die Nomaden, deren Vieh verendet ist. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die Situation zuspitzt. Erst sterben die Tiere, dann die Kinder und dann die Eltern.



KNA: Worin sehen Sie die Ursache für die derzeitige Katastrophe?

Gebre-Selassie: Die Hauptursache ist der ausgebliebene Regen. Es gibt in Äthiopien zwei Regenzeiten, eine lange von Juni bis September und eine kürzere von Februar bis Mai. Diese kurze Regenzeit ist besonders wichtig für die Landwirtschaft, die Bodenbearbeitung, das Graswachstum und die Wasserspeicherung. Seit 2009 ist diese wichtige Regenzeit ausgeblieben. Verschärft wurde die Hungersnot außerdem durch die Weltwirtschaftskrise und die hohen Lebensmittelpreise überall auf der Welt. In Äthiopien wird nur wenig selbst produziert, die Nomaden bauen keine Nahrungsmittel an. Und die Menschen im Land können sich ihre Lebensmittel einfach nicht mehr kaufen. Hinzu kommt, dass in manchen Regionen Konflikte herrschen, die ebenfalls zur Verschärfung der Krise beigetragen haben.



KNA: Viele Hungernde aus Somalia sind nach Äthiopien geflohen - gibt es Konflikte aufgrund der Nahrungsmittelknappheit?

Gebre-Selassie: Die somalischen Flüchtlinge leben zum größten Teil in den Flüchlingslagern in Dollo Ado. Die Äthiopier selbst sind trotz der Hungersnot in ihren Dörfern geblieben und werden dort so gut es geht versorgt. Die Regierung verteilt inzwischen Lebensmittelnotrationen. Für einen Monat 15 Kilo Weizen, 4,5 Kilo Sojamix und 500 Gramm Öl, pro Person. Konflikte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen gibt es daher eigentlich nicht.



KNA: Mittlerweile hat es in den Dürregebieten geregnet - denken Sie das Schlimmste ist überstanden?

Gebre-Selassie: Es hat zwar geregnet, aber dadurch hat sich die humanitäre Situation erst einmal verschlechtert. Krankheiten wie Malaria oder Durchfallerkrankungen breiten sich unter den vom Hunger geschwächten Menschen aus. Außerdem ermöglicht der Regen jetzt zwar neue Aussaaten, mit der ersten Ernte ist allerdings frühestens Ende Dezember zu rechnen. Bis dahin bleibt die Situation weiterhin kritisch und die Menschen sind auf Hilfen angewiesen.



KNA: Was können Hilfsorganisationen und die internationale Gemeinschaft über die akute Nothilfe hinaus tun?

Gebre-Selassie: Wichtig sind vor allem langfristige Projekte. Um das Land auf künftige Dürren vorzubereiten, müssen Wasserspeicher errichtet und Dämme gebaut werden. Wenn die Bewässerung funktioniert, gilt es, Futtermittel für das Vieh anzubauen. In den kommenden Wochen und Monaten brauchen die Menschen vor allem Saatgut und Hilfe dabei, ihre Herden neu aufzubauen.



KNA: Die Rezepte sind eigentlich schon seit längerem bekannt...

Gebre-Selassie: Die Welt muss sich zusammenreißen und endlich etwas tun, damit keine Menschen mehr an Hunger sterben müssen. Das ist eine Schande für die gesamte Menschheit.



Das Interview führte Inga Kilian, KNA