Vor 20 Jahren starb Oswald von Nell-Breuning

Der "Nestor der katholischen Soziallehre"

Er gilt als "Nestor der katholischen Soziallehre", war maßgeblich an der Formulierung der bekannten Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" beteiligt und war Ehrenbürger der Städte Trier und Frankfurt am Main. Vor 20 Jahren starb im hohen Alter von 101 Jahren der Jesuit, Nationalökonom und Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning.

 (DR)

Welche Meilensteine von Nell-Breuning gesetzt hat und welchen Stellenwert die katholische Soziallehre heute hat, weiß Professor Bernhard Emunds, Leiter des nach Oswald von Nell-Breuning benannten Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik in Frankfurt.



domradio.de: In unzähligen Veröffentlichungen behandelte Oswald von Nell-Breuning Fragen der Wirtschaftsethik sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie haben in den achtziger Jahren unter anderem in Frankfurt studiert. Hatten Sie dabei noch die Gelegenheit, Oswald von Nell-Breuning persönlich kennenzulernen?

Emunds: Ja, ich habe ihn vor allen Dingen kennengelernt, weil wir kurz vor seinem 100. Geburtstag unter der Führung von P. Hengsbach ein Buch mit neueren Schriften von ihm herausgegeben haben. Und da war ich zwei, drei Mal bei ihm auf dem Zimmer und habe ihn als einen, auch noch im Alter von 99 Jahren, sehr klaren Gesprächspartner kennen gelernt und als einen, der sehr nüchtern seine Dinger vorgebracht hat.



domradio.de: Nell-Breuning entstammte einer alten Adelsfamilie aus Trier und legte am selben Gymnasium wie Karl Marx sein Abitur ab. Wie ist es bei ihm zur intensiven Beschäftigung mit der Soziallehre gekommen?

Emunds: Interessanterweise erzählte P. von Nell-Breuning gerne, dass er schon in seinem Haus bei seiner Mutter auf dem Tisch Schriften des Volksvereins gefunden hat. Der Volksverein für das katholische Deutschland mit Sitz in Mönchengladbach hatte eben gerade schon die soziale Frage zur zentralen Frage erhoben und hat entsprechend auch Schriften dazu publiziert.



domradio.de: Wie ist es dann weiter gegangen mit seinen Interessen? Er ist ja in vielen Organisationen tätig gewesen.

Emunds: Interessanterweise hat er, bevor er sich für den Jesuitenorden entschieden hat, Mathematik studiert und hat in dieser Zeit schon Kurse gegeben für Arbeiter - Arbeiterbildungskurse, wenn man so will - und hat dann auch persönlich Kontakte knüpfen können, die ihn dann bis ins hohe Alter geprägt haben. Die enge Verbindung P. von Nell-Breunings mit christlichen Arbeitern ist eigentlich die zentrale Wurzel seines Schaffens. Und so ist eben auch die Aussöhnung der Kirche mit der Arbeiterbewegung, die Aussöhnung der Kirche mit der SPD und mit den Gewerkschaften das zentrale Thema von P. von Nell-Breuning.



domradio.de: Nach 1945 hatte von Nell-Breuning großen Einfluss auf die Entwicklung des Sozialstaats. Woran lässt sich heute noch seine Handschrift erkennen?

Emunds: Mit einigen Kollegen, unter anderem auch mit dem späteren Kardinal von Köln, Joseph Höffner, und einigen Kollegen hat er sich sehr stark gemacht für den Ausbau der Sozialversicherungen, vor allen Dingen für die Rentenversicherung als eine - wie es heißt - dynamische Rentenversicherung. Das heißt, eine Rentenversicherung, die diejenigen, die aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind, so absichert, wie es dem jeweils aktuellen Stand der Wohlfahrt und des Reichtums der Gesellschaft entspricht. Und überhaupt kann man sagen, dass der starke Akzent auf Sozialversicherungen im deutschen Sozialstaat, dass der sehr bedeutsam ist und dass der eben auch mit auf das wirken Nell-Breunings und anderer katholischer Sozialethiker zurückgeht. Und zwar gerade in der Einsicht: Wir können dann den Armen am besten helfen, wenn eben ein solcher Sozialstaat nicht nur für die Ärmsten der Armen ist, nicht nur für die - wie es heute heißt - wirklich Bedürftigen ist, sondern wenn er eben der gemeinsamen Absicherung gegen Lebensrisiken dient und damit auch der Absicherung von Lebensstandard dient.



domradio.de: Nun ist die Soziallehre kein genuin katholisches Terrain. Auch in anderen Religionen gibt es soziale Richtlinien, ja sogar nicht-religiöse Gruppen setzen sich heute für soziale Belange ein. Was macht dagegen die "katholische Soziallehre" als solche aus?

Emunds: Es ist eigentlich ganz interessant, dass der P. von Nell-Breuning, der ja dann immer der "Nestor der katholischen Soziallehre" genannt wurde, dass er selber gesagt hat: Eine katholische Soziallehre im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Denn entweder ist eine Soziallehre richtig oder sie ist irreführend und hilft nicht weiter. Sie ist richtig und ist allenfalls dann dadurch katholisch, dass sie vom Lehramt der katholischen Kirche vertreten wird. Das heißt, was die Inhalte angeht, war P. von Nell-Breuning immer sehr vorsichtig mit einem spezifisch christlichen oder spezifisch katholischen Profil. Wir heute sehen das ein bisschen anders. Wir würden sagen, dass es durchaus auch ein besonderes christliches Profil der Sozialethik gibt und würden dies vor allem in der Option für die Armen festmachen. Das heißt, dass eine Sozialethik der Kirche eigentlich immer nur auf Seiten der kleinen Leute stehen kann und nicht auf der Seite derer, die die Erfolgreichen und Reichen und Mächtigen dieser Erde sind.



domradio.de: Also auch die Versöhnung der Kirche mit der Arbeiterschaft, von der Sie ja eben auch gesprochen haben?

Emunds: Das ist natürlich bis heute auch ein schwieriges Terrain. Weil es ja auch darum geht, dass das katholische Milieu durchaus eine Nähe früher zum Zentrum und dann in der Nachkriegszeit zur CDU hat, während das Wirken von P. von Nell-Breuning eben durchaus auch in enger Verbundenheit mit den Arbeitern, mit den kleinen Leuten gerade eine enge Verbindung und Kooperation mit der Sozialdemokratie zum Ziel hatte.



domradio.de: Angesichts von Wirtschafts- und Eurokrise scheint der Sozialstaat keine große Bedeutung mehr zu haben. Kritiker werfen daher den großen Parteien vor, ihre sozialen Grundgedanken von einst zu vernachlässigen. Was würde Oswald von Nell-Breuning heute unseren Politikern sagen?

Emunds: In der jetzigen Situation wäre da wahrscheinlich ein zweifaches Profil entscheidend bei P. von Nell-Breuning. Erstens war ihm immer die Vernunft wichtig. Also zu überlegen, wie wirtschaftliche Zusammenhänge sind. Er würde es wahrscheinlich unsinnig finden, wenn man sagt, ausgerechnet jetzt, wo sich eine Rezession abzeichnet, müssen großartige Sparprogramme aufgelegt werden. Oder im Sinne der Vernunft würde er argumentieren und sagen, die Stärke, die Wettbewerbsstärke der deutschen Wirtschaft ist im Grunde nichts anderes als die Kehrseite der Schwäche von südeuropäischen Mitgliedsländern. Also er würde immer auch sagen, wir müssen die andere Seite sehen. Und das zweite Profil, das P. von Nell immer eingebracht hat, war der Solidarismus. Er nannte seinen eigenen Ansatz "Solidarismus". Das heißt, es hat sich auf die Solidarität bezogen und hat sehr stark hervorgehoben, Solidarität ist nicht irgendein unbestimmtes Gefühl, sondern ist die klare Verpflichtung, sich einzusetzen für das Schicksal der Anderen, ist die klare Verpflichtung, die vor allem dann groß ist, wenn man eben in eine Gemeinschaft eingebunden ist und man viel miteinander zu tun hat. Und ich glaube, insofern hätte er fast allergisch reagiert auf die Klagen der Deutschen über den südländischen Schlendrian, der so zu sagen jetzt die Europäische Union kaputt machen würde.



Das Interview führte Jan Hendrik Stens