Vor 100 Jahren trat die Reichsversicherungsordnung in Kraft

Eine Erfolgsgeschichte

Sie gehört zu den großen Gesetzgebungswerken Deutschlands. Die Reichsversicherungsordnung, die heute vor genau 100 Jahren in Kraft trat, war bis in die 1970er Jahre hinein das Kernstück des deutschen Sozialrechts.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

In ihr waren die Arbeiterkrankenversicherung, die Unfallversicherung sowie das Invaliditäts- und Altersversicherungsrecht zusammengefasst. Die RVO bestand ursprünglich aus 1.805 Paragrafen. Sie war damit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch das umfangreichste Gesetz des Deutschen Reichs.



Auslöser für diese riesigen Gesetzeswerke war die Gründung des Deutschen Reichs 1871. Was vorher in den zersplitterten deutschen Ländern oft völlig unterschiedlich geregelt war, konnte jetzt zu einem einheitlichen Gebäude zusammengefasst werden. Nach gleichem Muster wurden nach 1871 auch das Strafrecht und das Gerichtswesen vereinheitlicht sowie das Bürgerliche Gesetzbuch und die Handelsordnung geschaffen. Für Reichskanzler Otto von Bismarck waren diese Reformen wesentlicher Teil der "inneren Reichsgründung".



Das Gleiche galt auch für die Sozialgesetze, mit denen Bismarck die "soziale Frage" entschärfen und die Arbeiterschaft der SPD entfremden wollte. Mit der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invaliditätsversicherung 1889 - heute "Rentenversicherung" - schuf der Eiserne Kanzler ein europäisches Novum, das die Arbeiterschaft nach anfänglichem Zögern immer mehr akzeptierte. Wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung kamen auch von den christlichen Kirchen, etwa durch die erste Sozialenzyklika Papst Leos XIII. "Rerum novarum" 1891. Die Absicherung der wesentlichen Lebensrisiken trug zu einer Befriedung der Gesellschaft und zum Erfolg der aufstrebenden Industrienation bei.



Ständige Veränderungen

Dabei unterlag die RVO schon bei ihrem Entstehen ständigen Veränderungen: Die Rentenversicherung wurde durch eine Hinterbliebenenversicherung ergänzt, die Leistungen erhöhten sich. Auch Hausangestellte und Beschäftigte der Land- und Forstwirtschaft wurden in die Krankenversicherung einbezogen. Die neue RVO habe deutlich gemacht, dass "der aufstrebende deutsche Industriestaat die soziale Frage mit einer fürsorglich-obrigkeitlichen Zwangsversicherung beantworten wollte", schrieb der Frankfurter Rechtshistoriker Michael Stolleis kürzlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Der Zwangscharakter sei dadurch gemildert worden, dass den drei Zweigen der Sozialversicherung Selbstverwaltung garantiert wurde. "So setzte man zwar die Tradition des vorliberalen Wohlfahrtsstaats fort, gab aber auch dem Gedanken genossenschaftlicher Autonomie Raum."



In der Kranken- und Rentenversicherung erfolgt eine gemeinsame Finanzierung durch Arbeitgeber und Versicherte, die Unfallversicherung finanzieren alleine die Arbeitgeber. "Bemerkenswert ist, dass die Strukturen der RVO in der Zeit zweier Weltkriege, der Weimarer Republik mit der großen Inflation, der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung stets ihre Gültigkeit behalten und sich entsprechend angepasst haben", würdigte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Sozialexperte Peter Weiß am Montag die RVO. Auch die Deutsche Rentenversicherung sprach von einer Erfolgsgeschichte.



Stärkste Eingriffe in das Gesetzeswerk waren die zwischenzeitliche Aufhebung der Selbstverwaltung in der NS-Zeit und die Adenauersche Rentenreform von 1957, mit der die Renten an die allgemeinen Produktivitäts- und Lohnzuwächse des Wirtschaftswunders angeschlossen wurden. - eine Reform, die sich derzeit angesichts sinkender Kinderzahlen als großes Problem erweist.



Seit 1969 wurde die RVO stufenweise in ein noch größeres Vorhaben integriert, das Sozialgesetzbuch (SGB). In dessen zwölf "Büchern" sind nun, neben neuen Elementen wie Arbeitsförderung, Pflegeversicherung oder Sozialhilfe auch die klassischen Säulen der Sozialversicherung enthalten. Heute regelt die RVO nur noch wenige Rechtsfragen, etwa die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft oder die Rechtsverhältnisse der Beamten.