Viele Deutsche schwören auf die Naturheilkunst Hildegard von Bingens

Renaissance der Klostermedizin

Der Kirchengeschichtler Ignaz v. Döllinger nannte sie eine in der christlichen Geschichte einzig und unerreicht dastehende Erscheinung: die Äbtissin Hildegard von Bingen. Heute boomt die Hildegard-Medizin. In Bioläden gibt es Dinkelprodukte nach Hildegard, Gewürze und Honigweinmischungen, die ihren Namen tragen.

Autor/in:
Sabine Damaschke
 (DR)

Spätestens seit seinem Theologiestudium war die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) für Priester Josef Herrweg keine Unbekannte. Trotzdem blieb er erstaunt stehen, als er vor 30 Jahren im Allgäu die erste "Hildegard-Apotheke" entdeckte - mit heilkundlichen Schriften der gelehrten Nonne, Elixieren aus Wein und Honig, Gewürzen und Dinkelbrot. "Ihre Medizin kannte ich noch nicht, aber sie hat mich sofort fasziniert", erzählt der heute 79-jährige Pfarrer aus Overath im Bergischen Land.



Josef Herrweg ist fest davon überzeugt, dass er seine robuste Gesundheit der bekannten Äbtissin verdankt, die vor über 800 Jahren lebte. Als er damals in den "Bund der Freunde Hildegards" eintrat, der in diesem Sommer sein 35-jähriges Bestehen feiert, galt er noch als Exot. Heute bieten Heilpraktiker Elemente der christlichen Naturmedizin an, die den Patienten durchaus vertraut erscheint.



Kein Wunder, denn Hildegard von Bingens Gesundheitsphilosophie ähnelt mit ihrem ganzheitlichen Therapieansatz den großen Universalheillehren der Chinesen, der Ayurveda-Heilkunde der Inder sowie der Makrobiotik der Japaner. "Es ist aber eine christliche Naturheilkunde und darauf legen besonders ältere Patienten Wert", beobachtet die Bonner Heilpraktikerin Jutta Prinz. Viele kommen wegen chronischer Erkrankungen - oder um sich davor zu schützen.



Glücklich nach Aderlass

Ein Bandscheibenvorfall, Probleme mit der Schilddrüse und großer Stress im Beruf - all das brachte zum Beispiel Angela Buchholz dazu, die Hildegard-Medizin auszuprobieren. Erst war sie skeptisch, aber dann ließ sie sich auch auf die wissenschaftlich umstrittenste Säule dieser christlichen Heilkunde ein, den Aderlass. "Danach fühlte ich mich richtig glücklich und entspannt", sagt die 51-jährige Bankangestellte. Schulmedizinisch erklärbar sei das nicht, gibt Heilpraktikerin Jutta Prinz zu. "Aber die Patienten bestätigen, dass der Aderlass ihr Immunsystem stärkt, gegen Entzündungen wirkt und Aggressionen abbaut."



Einmal im Monat, und zwar genau sechs Tage nach Vollmond, nimmt Jutta Prinz ihren Patienten 50 bis maximal 200 Milliliter Blut ab - je nachdem, wann das dunkle Blut einen helleren Farbton bekommt. Denn dann, so meinte die Äbtissin damals, sei die schädliche "Schwarzgalle" aus dem Körper gelaufen. Dass es tatsächlich gesund ist, regelmäßig Blut zu spenden und den Körper damit zu entgiften, bestätigt auch Johannes Mayer, Leiter der Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg. Dies stärke aber nicht unbedingt das Immunsystem.



"Bei den Hildegard-Rezepten muss man genau hinsehen", rät der Wissenschaftler. "Die Wirkung einiger Methoden und pflanzlicher Heilmittel ist tatsächlich bewiesen, andere können dem Menschen sogar schaden." Etwa, wenn die Äbtissin empfiehlt, giftige Maiglöckchen gegen Hauterkrankungen auf nüchternen Magen zu essen. Für das orientalische Gewürz Galgant dagegen konnte die krampflösende Wirkung gegen Angina Pectoris nachgewiesen werden. Und Dinkel - der Klassiker der Hildegardmedizin - sorgt nicht nur für eine gute Verdauung, sondern auch für ein fröhliches und entspanntes Gemüt, weil es Tryptophan enthält, eine Aminosäure, die das Glückshormon Serotonin aktiviert.



Schon zu Lebzeiten verehrt

Eine Ernährung, die positiv auf Körper und Seele wirkt, gehörte unmittelbar zum Weltverständnis Hildegard von Bingens. In ihrem Weltbild harmonieren Mensch, Gott und Kosmos miteinander. Die Äbtissin dachte ganzheitlich - und das in einer Zeit, die von einer großen Leibfeindlichkeit, von Kreuzzügen und Machtkämpfen zwischen Papst und Kaiser geprägt war. Schon zu Lebzeiten wurde sie geachtet und verehrt.



Vom Papst als Prophetin anerkannt, beriet sie die Großen ihrer Zeit, darunter sogar Kaiser Friedrich Barbarossa. Bis ins hohe Alter stand sie ihrer Ordensgemeinschaft vor, schrieb an theologischen und medizinischen Schriften, komponierte 77 Choräle und verfasste rund 2.000 Rezepte. Jahrhundertelang war die fromme, hochgebildete Frau des Mittelalters vor allem aufgrund ihrer Theologie und Musik bekannt.



Das änderte sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts, als der österreichische Arzt Gottfried Hertzka Hildegards Rezepte neu entdeckte und testete. Basierend auf seinen Erfahrungen entwickelte sich die heutige "Hildegard-Medizin" - mit allen Vermarktungsstrategien, die dazu gehören. Und über die sich Heilpraktikerin Jutta Prinz bisweilen richtig ärgert. "Es geht zu weit, für Kräutertees mit Hildegards Namen zu werben", sagt sie. "Die Hildegardmedizin kennt gar keinen Tee." Ihre Kräuter kochte Hildegard von Bingen mit Wein ab.