Bundestagsvize Thierse kritisiert Zulassung der "Embryonen-Selektion"

Abgestufter Lebensschutz

Bundestagsvizepräsident Thierse ist beunruhigt über die beschlossene Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. "Wenn eine junge Frau ein Kind mit Behinderung gebärt, wird dann der Vorwurf kommen: Warum hast Du Dich nicht genetisch untersuchen lassen?", befürchtet der SPD-Politiker. Im domradio.de-Interview fordert Thierse Christen dazu auf, stärker für die Menschenwürde einzutreten.

 (DR)

domradio.de: Sie gehören zu den strikten Gegnern der Präimplantationsdiagnostik. Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für Sie?

Wolfgang Thierse (SPD): Ich bin ein bisschen traurig über diese Entscheidung, denn es ist nach meinem Gefühl ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bisher galt der  Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an. Nun wird dieser Schutz des menschlichen Lebens abgestuft. Die Präimplantationsdiagnostik besteht doch darin, dass eine Mehrzahl von Embryonen erzeugt werden muss, um einen zu verwenden. Diejenigen, die genetisch schlechte Eigenschaften haben, werden verworfen - also dem Tode übergeben. Das ist wirklich ein Einstieg in einen Prozess, der mich beunruhigt, weil Menschenwürde sozusagen am Anfang des Lebens geringer geschätzt wird als bisher.



domradio.de: Die Abgeordneten waren vom Fraktionszwang befreit. Es war eine sehr emotionale Debatte im Parlament. Wie haben Sie das empfunden?

Thierse: Das ist so. Bei solchen Themen ist es nicht vernünftig, nach Parteien abzustimmen, sondern da muss jeder Abgeordnete seiner Grundüberzeugung, seinem Gewissen folgen. Das war eine offene Abstimmung, keiner wusste, wie sie ausging. Dass es dann gleich im ersten Abstimmungsgang eine ausreichende Mehrheit für eine Zulassung der PID in bestimmten Grenzen gegeben hat, das ist das Ergebnis. Ob diese Grenzen in irgendeiner Weise realistisch sind, daran haben viele - ich auch - Zweifel.



domradio.de: Eine Ihrer Befürchtungen bei der Zulassung der PID ist, dass damit weiteren Selektionsmaßnahmen Tür und Tor geöffnet wird…

Thierse: Nein, PID ist Selektion. Es werden Embryonen in der Petrischale erzeugt, menschliches Leben erzeugt, um auszuwählen, um einen ausgewählten Embryo dann einzupflanzen und die anderen dem Tode zu übergeben. PID ist Auswahl, ist Selektion und das ist beunruhigend. Das war unserer Rechtsordnung bisher gänzlich fremd.



domradio.de: Welche Auswirkungen wird das auf die Gesellschaft und das Leben von Menschen mit Behinderung haben?

Thierse: Wir haben dann einen abgestuften Lebensschutz. Es ist nicht auszuschließen, ich will nicht wie Kassandra reden, aber es ist nicht auszuschließen, dass der Druck größer wird, sich genetisch untersuchen zu lassen. Wenn eine junge Frau ein Kind mit Behinderung gebärt, wird dann der Vorwurf kommen: Warum hast Du Dich nicht genetisch untersuchen lassen? Warum hast Du das nicht ausgeschlossen? Es ist durchaus zu befürchten, dass die gesellschaftliche Atmosphäre in dieser Hinsicht sich verändert. Wir müssen nach dieser Entscheidung, alle Menschen guten Willens und die Christen voran, leidenschaftlich dafür eintreten, dass Behinderung kein Schuldmal, kein Mal, dass einem zur Schande gereicht wird. Wir müssen mit besonderer Leidenschaft Menschen mit Behinderung begleiten, unterstützen, fördern als gleichberechtigte Menschen mit der gleichen Würde ihnen begegnen.



domradio.de: Der EKD-Ratsvorsitzende Präses Schneider hat vorab gesagt, es wäre ihm wichtig, auf Dauer ein Fortpflanzungsgesetz zu bekommen, dass den gesamten Bereich der In-vitro-Fertilisation, also der Befruchtung im Glas regelt, stimmen Sie dem zu?

Thierse: Das kann sein, denn wir werden nach dieser Entscheidung heute an verschiedenen Gesetzen noch arbeiten müssen. Denn dieses Gesetz steht durchaus im Widerspruch zu bisherigen gesetzlichen Regelungen. Bisher galt gerade bei der Schwangerenkonfliktregelung, dass die embryopathische Indikation nicht erlaubt ist, das wird heute mit dieser Entscheidung anders. Insofern gibt es viele Widersprüche, die nun zu klären sind. Wir müssen weiter ernsthaft und mit hoher moralischer Sensibilität über all diese Fragen in dieser Gesellschaft diskutieren.