Militärbischof Overbeck warnt vor einem zu schnellen zivilen Afghanistan-Abzug

"Unglaublich viel menschliche Energie verschleudert"

In der Debatte über einen militärischen Abzug aus Afghanistan hat der katholische Militärbischof Franz-Josef Overbeck vor einem zu schnellen zivilen Rückzug gewarnt. Es bestehe "die Sorge, dass mit dem militärischen Abzug auch die kostenträchtigen politischen Aufbaumaßnahmen zu schnell reduziert werden."

Militärbischof Overbeck im Gespräch mit domradio.de-Redakteur Johannes Schröer (DR)
Militärbischof Overbeck im Gespräch mit domradio.de-Redakteur Johannes Schröer / ( DR )

Deutschland habe seit 2001 gegenüber den Menschen in Afghanistan eine Verpflichtung übernommen, "aus der wir uns jetzt nicht entlassen können", betont der Essener Bischof in einem Beitrag für die Zeitschrift der katholischen Militärseelsorge "kompass". Deutschland stehe "in der Verpflichtung, subsidiäre Hilfe im Maß des Geforderten so lange anzubieten, bis der Staat in Afghanistan in der Lage ist, den Menschen grundlegende Rechte zu gewährleisten".



Wesentliche Entscheidungen seien in westlichen Hauptstädten getroffen worden

In seinem Beitrag übt der Essener Bischof heftige Kritik an der Aufbauarbeit in den vergangenen zehn Jahren. Wegen mangelnder Koordination seien "Milliarden an Finanzhilfen und unglaublich viel menschliche Energie verschleudert" worden, ohne dass die Staatengemeinschaft ihre selbst gesteckten Ziele erreicht habe. Der Versuch, eine rechtsstaatliche Präsidialdemokratie westlichen Zuschnitts zu errichten, habe offensichtlich nicht dem Prinzip entsprochen, dass sich der politische Aufbau an den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten orientieren müsse. Zudem seien wesentliche Entscheidungen über das politische System nicht in Afghanistan selbst getroffen worden, sondern in westlichen Hauptstädten.



Das politische System des Landes, so Overbeck weiter, sei "noch weit von echter Gemeinwohl-Orientierung entfernt". Viele Afghanen litten "unter Klientel-Politik und dem Gruppenegoismus der Mächtigen; die offenbar allgegenwärtige Korruption ist deren hässlicher Begleiter".



Overbeck: Afghanen erleben Staat als Bedrohung

Justiz und Polizei funktionierten nicht gemeinwohlorientiert, sondern orientierten sich an Partikularinteressen, oft auch an den Eigeninteressen der Beamten nach einer ausreichenden Bezahlung, da der Staat diese nicht gewährleiste. "So erleben viele Afghanen heute ihren Staat nicht als den Beschützer ihrer Rechte, sondern als Bedrohung und Räuber des Wenigen, das sie zum Leben so dringend brauchen", kritisiert der Bischof.



Diese Entwicklung dürfe jedoch nicht achselzuckend oder zynisch hingenommen werden, so Overbeck weiter. Im Sinne der kirchlichen "Option für die Armen" bedürften die Menschen in Afghanistan weiter der Solidarität. Ein vorrangiges Ziel der internationalen Aufbauhilfe müsse sein, den afghanischen Staat durch den Aufbau einer selbsttragenden Ökonomie zügig von Hilfe unabhängig werden zu lassen. Zugleich müsse subsidiäre Hilfe beim Staatsaufbau an die Bedingung geknüpft werden, dass Ansätze zu mehr gemeinwohlorientierter Politik gefördert würden.