Reliquien verschaffen Christen ein Stück Seligkeit auf Erden

Hyperlinks zum Himmelreich

Erst vor wenigen Tagen pilgerten Zehntausende zur weltweit größten Reiterprozession nach Weingarten, um die Heilig-Blut-Reliquie zu verehren. Ähnliche Bilder sind bald auch in Krakau zu sehen, die Johannes-Paul-II.-Kirche hat eine Ampulle mit Blut des verstorbenen Papstes erhalten. Hinter der Reliquienverehrung steht Glaubensüberzeugung – und eine lange Geschichte.

Autor/in:
Burkhard Jürgens
 (DR)

Vier Fläschchen Blut brachten einige schon wieder in Wallung. Von "Leichenfledderei" war die Rede. Der Vorwurf ging gegen den Vatikan. Dieser hatte eigentlich genau das Gegenteil im Sinn:  nämlich das ehrende Andenken an den just seliggesprochenen Papst Johannes Paul II. zu fördern. Zu dem Behufe hatten der frühere Privatsekretär und jetzige Kardinal Stanislaw Dziwisz sowie vorausblickende Ordensfrauen vier päpstliche Blutproben länger gehütet, als es kurativ erforderlich war.



Jetzt erhält die neue Johannes-Paul-II.-Kirche in Krakau eine solche Ampulle, ähnlich wie im Dom zu Neapel eine Blutreliquie des heiligen Januarius gezeigt wird und Blutstropfen der Jungfrau Christina von Bolsena in St. John in Cleveland, Ohio; beide allerdings schon aus der Spätantike. Wer das befremdlich findet, muss bedenken, dass die Frömmigkeitsgeschichte einen weitaus unverkrampfteren Umgang mit Glaubenszeugen kennt. Waldsassen in der Oberpfalz feiert seit der Barockzeit alljährlich die "Heiligen Leiber": ein Dutzend Märtyrerskelette mit höfischen Gewändern in lebendigen Posen, lange bevor Gunther von Hagens seine "Körperwelten" installierte.



Lange und bunte Tradition

Diese handfeste Seite christlicher Auferstehungshoffnung hat eine lange und bunte Tradition. Zwei Ereignisse im Jahr 386 markierten einen gewissen Schritt: In Rom ließ Kaiser Theodosius I. den Sarkophag des heiligen Paulus zum Schutz vor Feuchtigkeit ein paar Meter höher setzen. Eucharistiefeiern fanden seitdem nicht nur am Grab, sondern praktisch auf dem Sarg statt - wortwörtlich eine "Erhebung zur Ehre der Altäre". Zur gleichen Zeit suchte und fand Bischof Ambrosius in Mailand die Gräber der Märtyrer Gervasius und Protasius übertrug deren Gebeine unter den Altar seiner eben fertiggebauten Basilika. Das war das erste Mal, dass eine Kirche durch Reliquien gewissermaßen geadelt wurde.



Hinter der Reliquienverehrung steht die Glaubensüberzeugung, dass die betreffenden Verstorbenen bereits in Gottes Seligkeit weilen, einst aber auch leiblich auferstehen. Demnach verkörpern die irdischen Überreste schon jetzt ein Stück paradiesischer Wirklichkeit. Selbst auf Gegenstände, die sie als "Tempel des Heiligen Geistes" nur berührt haben, geht etwas vom Vorglanz der Ewigkeit über. Die Kutte des heiligen Franziskus oder Öl, das über die Gebeine des heiligen Nikolaus floss - sie werden zu Hyperlinks des Himmelreichs.



Um des Himmelreichs willen zogen auch die Kreuzritter 1204 nach Konstantinopel, plünderten die Stadt, raubten oder ließen sich andrehen, was irgend kostbar und heilig schien: vom Grabtuch Christi und der Dornenkrone bis zum Fuß des heiligen Cosmas und einem Zahn des Laurentius; auch den Orthodoxen teure Glaubensväter wie Johannes Chrysostomus (379-407) und Gregor von Nazianz (330-390). Der Hunger nach greifbaren Zeugen der Heiligkeit war enorm. Elisabeth von Thüringen, 1231 im Ruf der Heiligkeit gestorben, büßte noch auf ihrem Totenbett unter dem Andrang frommen Volks Haare, Fingernägel und selbst Brustwarzen ein.



Glaubenseifer und Geschäftstüchtigkeit

Unterdessen gingen Reformation und Aufklärung übers Land, und auch unter Katholiken haben sachliche Distanziertheit und teils sogar Skeptizismus Einzug gehalten. Nur noch vereinzelt kommt es zu Reliquienraub wie etwa 1991, als das Haupt des heiligen Antonius - übrigens Patron für verlorene Gegenstände - aus der Basilika von Padua verschwand und Wochen später auf einer Wiese am römischen Flughafen Fiumicino wieder auftauchte.



Neuerdings bemüht sich die Kirche, das auszulichten, was dank Glaubenseifer und teils auch Geschäftstüchtigkeit ins Kraut geschossen ist: Nach Jahrhunderten der wunderbaren Reliquienvermehrung wird geprüft, sortiert, ausgemustert. Erst 2002 mahnte der Vatikan, dass Körperteile zweifelhafter Herkunft "mit der gebotenen Klugheit der Verehrung der Gläubigen zu entziehen sind". Ein Problem, wenn gerade solche Stücke als wundertätig gelten. Theologen verweisen dann darauf, dass eben nicht die Gebeine selbst Wunder wirken, sondern die Heiligen im Himmel ein gutes Wort bei Gott einlegen. Auf dieser Entscheidungsebene fällt die Identität von Knöchelchen offenbar weniger ins Gewicht.