Philosoph Precht modernisiert Bibelwort

Vorfahrt für die Caritas

Für Richard David Precht ist das Bibelwort "Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst" überholt. Eigentlich müsste es heute "Achte Deinen Nächsten, obgleich Du ihn nicht liebst", fordert im Interview mit domradio.de der Bestsellerautor Vorfahrt für die Nächstenliebe gegenüber der romantischen.

 (DR)

domradio.de: Sie waren in Ihrer Kindheit geprägt von eher linksliberalen Eltern. Durften sie da egoistisch sein?

Precht: Als Kind habe ich mir darüber keine großen Gedanken gemacht. Aber der Egoismus ist limitiert, wenn man in einer Familie mit vier Geschwistern groß wird. Und da es insgesamt bei uns nicht so viel zu verteilen gab, war es eine Mischung aus Egoismus, wo man versuchen musste sich gegen die anderen durchzusetzen. Und gleichzeitig hat man frühzeitig gelernt, dass man immer auf vier andere Rücksicht nehmen muss. Das ist eine sehr prägende Erfahrung gewesen.



domradio.de: Sie sind der Meinung, dass Menschen grundsätzlich das Bedürfnis danach haben, gut zu sein - lese ich das richtig aus Ihrem Buch "Die Kunst, kein Egoist zu sein"?

Precht: Ich würde es noch etwas anders formulieren: Menschen haben ein vitales Interesse daran, sich selbst für gut zu halten. Das ist nicht immer identisch mit gut sein. Aber nur sehr wenige Menschen ertragen diesen Zustand, langfristig die Bösen zu sein. Die allermeisten Menschen halten sich meist für die Guten. Selbst in Gefängnissen. Das ist schon mal eine wichtige Voraussetzung: Wenn wir dieses Bedürfnis gar nicht hätten, wäre die Welt noch ein sehr viel fürchterlicherer Ort.



domradio.de: Es gibt den biblischen Spruch: Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst. Ist das ein empfehlenswerter Leitfaden?

Precht: Dieser Satz leidet an einem Übersetzungsfehler. Denn wenn wir in unserem Sprachgebrauch das Wort Liebe hören, denken wir an romantische Liebe - und das ist natürlich nicht gemeint. Liebe in diesem Sinne war Caritas, also Nächstenliebe. Und Nächstenliebe bedeutet im pathetischen Sinne nicht, jemanden zu lieben, sondern sich auch um andere zu sorgen. Aber wenn wir diesen Satz moderner übertragen wollen, müsste man eigentlich sagen: Achte Deinen Nächsten, obgleich Du ihn nicht liebst.



domradio.de: Kann man denn da beziehungsfähig sein?

Precht: Nein. Die romantische Liebe ist ja etwas sehr Asoziales. Die romantische Liebe bezieht sich zumeist auf eine Person und schließt alle anderen aus. Verliebe sind relativ selten gemeinnützige Menschen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die die schöne Idee der Caritas durch die Idee des Eros - also der romantischen Liebe - weitgehen ersetzt hat. Das ist für die Gesellschaft nur eingeschränkt gesund. Es ist sehr viel besser, die Caritas in einer Gesellschaft zu fördern, als morgens bis abends Propagandaberieselung im Fernsehen zu machen, in der es um nichts anderes als romantische Liebe geht. Denn romantische Liebe ist immer eine sehr narzisstische Angelegenheit.



Das Gespräch führte Birgitt Schippers - hören Sie es hier in voller Länge nach.

Richard David Precht liest am 9. Juni im Kölner Schauspielhaus aus seinem Bestseller "Die Kunst, kein Egoist zu sein".