Verfassungsgericht entscheidet überraschend gegen nachträgliche Unterbringung von Straftätern

Kein nachträgliches Wegsperren mehr

Die Sicherungsverwahrung für gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter in Deutschland muss komplett neu gestaltet und deutlicher von der Strafhaft abgegrenzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat alle gesetzlichen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt.

 (DR)

Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle brachte die "weitgehend einstimmig" ergangene Entscheidung des Zweiten Senats am Mittwoch mit folgenden Worten auf den Punkt: "Hochgefährliche Straftäter dürfen unter engen Voraussetzungen weiter verwahrt werden, die anderen müssen freigelassen werden." Bund und Länder müssten ein neues gesetzliches Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung entwickeln. Dieses müsse auf Therapie ausgerichtet sein und dem Untergebrachten eine realistische Entlassungsperspektive eröffnen.

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BVerfG: Mit Freiheitsgrundrecht nicht vereinbar--
Die bestehenden Regelungen seien mit dem Freiheitsgrundrecht der Untergebrachten nicht vereinbar, entschied das Verfassungsgericht. Derzeit genüge der tatsächliche Vollzug der Sicherungsverwahrung nicht den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen. --
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Es liege ein Verstoß gegen das "Abstandsgebot" vor, wonach die Sicherungsverwahrung grundsätzlich anders ausgestaltet sein müsse als die vorherige Strafhaft. Denn während die Freiheitsstrafe der Vergeltung begangener Straftaten diene, diene die Sicherungsverwahrung "allein" der Verhinderung zukünftiger Straftaten.--


Neuregelung bis 31. Mai. 2013--
Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, spätestens bis 31. Mai 2013 seien die verfassungswidrigen Vorschriften jedoch weiter anwendbar - allerdings in der Regel nur für Fälle, in denen bei einer Freilassung "künftige schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten" des Betroffenen drohen würden. Nötig sei eine "strikte Prüfung der Verhältnismäßigkeit". --
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Die konkret mit Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahresfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung verletzen dem Urteil zufolge auch das Gebot des Vertrauensschutzes.--
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In den sogenannten "Altfällen" der nachträglichen unbefristeten Verlängerung und der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung dürfe diese Maßregel nur noch unter der Bedingung aufrechterhalten werden, dass der Untergebrachte an einer psychischen Störung leidet. Zusätzlich müsse aus seinem Verhalten oder seiner Person eine "hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten" abzuleiten sein. Die Gerichte müssten dies nun "unverzüglich" in jedem Einzelfall prüfen. Lägen die nötigen Voraussetzungen nicht vor, müssten die betroffenen Sicherungsverwahrten bis spätestens 31. Dezember 2011 freigelassen werden. --


Vier Straftäter hatten geklagt--
Das Bundesverfassungsgericht entschied konkret über die Verfassungsbeschwerden von vier in Sicherungsverwahrung befindlichen Straftätern - davon zwei aus Bayern und je einem aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Bei zwei Klägern wurde Sicherungsverwahrung nachträglich erst kurz vor Ende der Haft verhängt. Die anderen beiden Beschwerdeführer rügten, dass sie nicht nur zehn Jahre wie ursprünglich vorgesehen, sondern unbefristet verwahrt werden sollen. --


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung mehrfach beanstandet. Das Urteil war von der Regierungskoalition und zahlreichen deutsche Richter mit Spannung erwartet worden. Schon vor der Urteilsverkündungam Mittwoch hatte jedoch einiges darauf hingedeutet, das sich das höchste deutsche Gericht weiterhin für das nachträgliche Wegsperren von "höchstgefährlichen" Sexual- und Gewaltstraftätern aussprechen wird. Nun jedoch hat sich Karlsruhe nicht gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, der mehrfach die deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung beanstandet hat.



Justizministerin verteidigte deutsches Strafrecht

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte sich für die Beibehaltung des bisherigen deutschen Strafrechts für Schwerstverbrecher ausgesprochen. "Deutschland hat durch das duale System von Strafe und Maßregel eine gute Balance gefunden", sagte die Ministerin bei der mündlichen Verhandlung. Nach ihrer Ansicht widersprächen sich die deutsche Verfassung und die Menschenrechtskonvention auch in den vorliegenden vier Altfällen nicht unbedingt.



Die Ministerin wies auch auf die Reform der Sicherungsverwahrung hin. Seit dem 1. Januar 2011 muss die Sicherungsverwahrung im Strafurteil angeordnet oder vorbehalten sein, die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde abgeschafft. Das neue Therapie-Unterbringungsgesetz biete zusätzliche geeignete Maßnahmen für den Umgang mit Schwerstverbrechern, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Demnach können Gewalt- und Sexualstraftäter nach ihrer Haftzeit zur Therapie in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werde.



Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über vier Beschwerden von Straftätern, die wegen schwerer Sexualdelikte, Raubes und Mordes verurteilt wurden und bei denen die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Die Beschwerdeführer rügten unter anderem eine Verletzung des Verbots der rückwirkenden Bestrafung und ihres Freiheitsgrundrechts. Die Verhängung einer Sicherungsverwahrung sei unzulässig, wenn es bei der Verurteilung des Straftäters dazu noch keine gesetzlichen Vorschriften gegeben hat, sagte Rechtsanwalt Jörg Kinzig, der einen Straftäter vertritt, der seit 1978 fast ununterbrochen in Haft sitzt.



Auslegung des Rückwirkungsverbots

Noch 2004 hatte das Bundesverfassungsgericht die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung zum Schutz der Allgemeinheit als zulässig gewertet. Die Sicherungsverwahrung stelle keine Strafe dar, sondern sei als Maßregel zu werten, argumentierte damals das höchste deutsche Gericht. Für derartige rein präventive Maßregeln gelte das Rückwirkungsverbot nicht.



Hintergrund der Verhandlung ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg vom Dezember 2009. Nach dessen Auffassung verstößt die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte und ist unzulässig. Gegen eine Sicherungsverwahrung sei zwar nichts einzuwenden, urteilten die europäischen Richter. Die Verhängung einer Sicherungsverwahrung sei aber unzulässig, wenn es bei der Verurteilung des Straftäters dazu noch keine gesetzlichen Vorschriften gegeben hat. Auch die in Deutschland bis 1998 geltende zehnjährige Höchstgrenze für eine Sicherungsverwahrung dürfe nicht rückwirkend verlängert werden, entschied der Gerichtshof in Folgeurteilen.