Kerstin Griese verteidigt christliches Menschenbild der Partei

"Die eindeutige Mehrheit steht nicht hinter Sarrazin"

In der SPD wächst der Unmut über die Entscheidung der Parteispitze, das Ausschlussverfahren gegen den umstrittenen Thilo Sarrazin nicht weiter zu verfolgen. Nun drohen viele Genossen mit Austritt. Kerstin Griese, Sprecherin des Arbeitskreises der Christinnen und Christen in der SPD, bedauert im domradio.de-Interview die Ereignisse.

 (DR)

domradio.de: Frau Griese, der Sprecher des Arbeitskreises der jüdischen Sozialdemokraten Sergey Lagodinsky hat angedroht aus der Partei auszutreten. Was halten Sie davon?

Kerstin Griese: Ich fände seinen Austritt sehr schade und ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass ich lieber ihn in der Partei sehe als Thilo Sarrazin, denn er ist jemand, der aus Russland eingewandert ist, der für gelungene Integration steht, er ist als Sprecher der jüdischen Sozialdemokraten jemand, mit dem ich sehr eng und sehr gut zusammenarbeite. Insofern ist es mir wichtig, dass er Mitglied der SPD bleibt. Und ich habe ihm auch deutlich gesagt, die eindeutige Mehrheit in der SPD steht nicht hinter Thilo Sarrazin und insofern brauchen wir solche Leute wie ihn weiter in der SPD.



domradio.de: Meinen Sie denn, Thilo Sarrazin steht mit seinen Thesen in der SPD alleine da?

Griese: Er hat auf jeden Fall keine Mehrheit mit seinen Thesen in der SPD. Ich habe selbst als Mitglied des Parteivorstandes dafür gestimmt, ein Ausschlussverfahren gegen ihn anzustrengen. Ich muss aber auch sagen: Parteiordnungsverfahren sind nicht der richtige Weg, um inhaltliche Konflikte zu lösen. Meine Position ist ganz klar: Ich finde die Thesen von Thilo Sarrazin falsch und ich finde, dass gelungene Integration in Deutschland gelebt werden muss und gedruckt werden muss. Ich finde es falsch, wie er Menschen in seinem Buch kategorisiert hat. Er hat jetzt anscheinend gesagt - wir haben alle keinen internen Einblick in dieses Parteiordnungsverfahren -, dass er diese Thesen so nicht wiederholen würde, wie lang er das hält wissen wir noch nicht. Er hat ja schon am Ostermontag sein erstes Interview gegeben, wenn ich es richtig aus der Berichterstattung verstanden habe, hat man sich darauf geeinigt, dass er solche, die SPD schädigenden Äußerungen nicht mehr machen wird.  



domradio.de: Stört es Sie als Vorsitzende des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD, dass ein Prominenter wie Sarazin mit seiner verkürzten darwinistischen Weltsicht in der SPD jetzt bleiben darf?

Griese: Mich stören seine Thesen sehr und ich kann auch inhaltlich dagegen argumentieren. Und sie haben auch nichts mit dem Menschenbild der Sozialdemokratie zu tun, das sich ja aus verschiedenen Ursprüngen speist, sowohl aus der humanistischen Idee als auch aus der jüdisch-christlichen Geschichte und aus der Arbeiterbewegung. Und alle diese Ideengrundlagen der Sozialdemokratie haben etwas damit zu tun, dass alle Menschen gleiche Chancen haben und dass man Menschen nicht biologistisch einteilen kann. Deshalb muss man sich inhaltlich mit diesen Thesen auseinandersetzen, die ja leider auch Zuspruch in der Bevölkerung finden, das ist das Problem. Aber er hat mit diesen Thesen keine Mehrheit in der SPD, und das wurde wohl auch in diesem Verfahren noch einmal festgestellt.



domradio.de: Überspitzt gesagt, schwingt sich ja da jemand von oben auf, um über sozial Schwache wie Hartz IV-Empfänger oder Migranten zu urteilen. Dagegen müsste sich doch das soziale Gewissen der SPD mit Händen und Füßen sträuben. Ist denn eine solche Einstellung nicht unvereinbar mit den sozialdemokratischen Gedanken?  

Griese: Das soziale Gewissen der SPD hat sich da ja auch sehr deutlich gesträubt: Es gab zurecht ganz viel Kritik an den Äußerungen von Sarrazin. Mich ärgert, wie er hochgehypt wurde, wie er durch alle Talkshows ging, durch die sein Buch noch bekannter gemacht wurde. Aber seine Aussagen zu dem Thema sozial Schwache oder Hartz IV-Empfänger oder auch zu Migranten sind überhaupt nicht hilfreich, sie sind größtenteils falsch gewesen. Und das hat nichts mit sozialdemokratischen Gedanken zu tun. Nun sind einfach die Regeln eines Parteiordnungsverfahrens andere, und wie gesagt: Ich finde nicht, dass sie helfen, die inhaltliche Auseinandersetzung zu führen. Ich war nicht dabei, als am Gründonnerstag darüber so entschieden wurde, ich war auch erstaunt über das Ergebnis. Mir wäre es aber am liebsten, wenn das Theater um seine Thesen in dem Sinne aufhören würde, dass er nicht ständig als Sozialdemokrat zitiert wird. Die sozialdemokratische Mehrheitsmeinung ist eindeutig eine andere, und das soziale Gewissen in der SPD ist eindeutig der Ansicht, dass jeder Mensch eine gleiche Chance hat, egal aus welchem Elternhaus er kommt oder welche Herkunft er oder sie hat.



domradio.de: Dass es in einer Partei verschiedene Strömungen gibt, vor allem an der Basis, das ist ja ganz normal. Muss man jetzt mit Sarrazin zum Beispiel andere Maßstäbe ansetzen, wenn einer so prominent ist wie er?

Griese: Nun, er ist ja prominent gemacht worden, und da müssen keine anderen Maßstäbe angesetzt werden. Deshalb hat er jetzt auch schon zum zweiten Mal ein Parteiausordnungsverfahren gehabt. Und wenn er diese Thesen wieder vertritt, wir er sicher wieder eines bekommen. Aber ich denke, es ist jetzt einfach an der Zeit, dass man sagen muss, er muss damit aufhören, das öffentlich als SPD-Position zu vermarkten. Das hat er anscheinend zugesagt, wie gesagt: Wir waren alle nicht mit dabei. Es geht jetzt um eine positive Auseinandersetzung mit Integrationspolitik und mit gelungener Integration.