40.000 Atomgegner demonstrieren in Köln

Ausstieg, aber subito

Sie rufen "Abschalten! Abschalten!". Immer wieder. So schallt es am Samstag durch Köln - bei einer der vielleicht mächtigsten Demonstrationen, die die Stadt in den letzten Jahren erlebt hat. 40.000 Menschen sollen es nach Angaben der Veranstalter sein, die an diesem Tag auf die Straße gehen, um für das sofortige Abschalten der Atomkraftwerke in Deutschland und weltweit zu demonstrieren.

 (DR)

Menschen aller Altersgruppen und Bevölkerungsschichten haben sich in den Protestzug eingereiht. Junge Eltern haben ihre Kinder im Kinderwagen mitgebracht.



Dann aber wird es für einen Moment ganz still. Mit einer Schweigeminute gedenken die Menschen der Opfer der Erdbebenkatastrophe in Japan, bevor auf dem Platz an der Deutzer Werft die große Abschlusskundgebung beginnt. Einer der Hauptredner ist der DGB-Landesvorsitzende Andreas Meyer-Lauber. "Ein gutes Leben ohne Atomkraft und ohne Atomwaffen ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts", sagte er. Doch auch er wird immer wieder unterbrochen von den Rufen der Demonstranten: "Abschalten! Abschalten!".



"In Zement gegossene Atombomben"

"In Zement gegossene Atombomben" nennt Axel Rose, Mitglied der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg, die Atomkraftwerke. Eine Welt ohne Atomwaffen bleibe solange Illusion, wie es Atomkraftwerke gebe, sagt er und fordert die Menge auf: "Empört Euch!". Meyer- Lauber ruft schließlich dazu auf, bei den Landtagswahlen am Sonntag "keine Stimme der Atomlobby zu geben".



Auch zahlreiche Spitzenpolitiker von Grünen und SPD haben sich an diesem Samstag auf den Weg nach Köln gemacht. Unter ihnen Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne). Sie zeigt sich von der großen Zahl der Demonstranten nicht überrascht. "Damit habe ich gerechnet", sagt sie. "Diese kraftvolle Demonstration zeigt, dass die Bevölkerung eindeutig für den Ausstieg ist. Die Zeit ist reif." Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) spricht am Rande der Kundgebung von einer "breiten Bürgerbewegung, gegen die die Politik nicht angehen kann".



Erste Kundgebungen bereits am Morgen

Vor der über zweistündigen Kundgebung mit Musik und Kabarett gegenüber dem Kölner Dom hatte es am Vormittag bereits zwei andere Kundgebungen gegeben, von denen aus sich der Protestzug friedlich durch die Innenstadt in Bewegung gesetzt hatte. Dabei kam es auch zu spontanen, sängerischen Koalitionsbildungen von Landespolitikern: So stimmten Grünen-Bundeschefin Claudia Roth, NRW-Umweltminister Johannes Remmel und seine Vorvorgängerin Bärbel Höhn, die Grünen-Landesvorsitzenden Sven Lehmann und Monika Düker sowie der Vorsitzende der Linken-Landtagsfraktion, Wolfgang Zimmermann, in den Chor der Demonstranten ein und sangen das Widerstandslied "Wehrt euch, leistet Widerstand!".



Zuvor hatte Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis SOFA (Sofortiger Atomausstieg) Münster die Landesregierung aufgefordert, die Urananreicherungsanlage in Gronau zu schließen, da von dort auch japanische Atomanlagen beliefert würden. An diesem Geschäft verdienten auch RWE und E.ON, denen ein Drittel der Betreiberfirma Urenco gehöre, sagte Eickhoff.



Jonas Thile, Vorsitzender der Studierendenvertretung an der Uni Köln, verwies auf "atomindustriefreundliche Studien" des Energiewirtschaftlichen Instituts, das zu zwei Dritteln von RWE und E.ON finanziert werde. Der Redner einer erst vor zwei Wochen gegründeten Anti-Atom-Initiative aus Jülich forderte die Politik auf, endlich zwei Störfälle in der Kernforschungsanlage Jülich aus dem Jahr 1978 zu untersuchen. Eine andere Rednerin rief zum "breit gefächerten Widerstand" auf: "Demonstrieren, blockieren, sabotieren".



Berliner Anti-Atom-Protest übertrifft alle Vorstellungen

Dass die angemeldeten 50.000 Menschen nicht ausreichen würden, damit hatte die Berliner Polizei schon vor der Anti-Atom-Demonstration gerechnet. Insgeheim wohl auch die Veranstalter, auch wenn sie wegen der kurzen Vorbereitungszeit offiziell nur auf "mehrere zehntausend" zu hoffen wagten. Dass es dann nach Veranstalterangaben tatsächlich 120.000 Demonstranten geworden sind, die am Samstag gegen die Kernenergie in Berlin auf die Straße gingen, zeigt, was die Leute von der Atompolitik Bundesregierung halten: nämlich nichts.



Schon die Länge des Protestzuges machte deutlich, dass es sich um eine riesige Menschenmenge handelte. Nachdem der Protestzug vom Potsdamer Platz gestartet war, dauerte es über eine Stunde, bis auch die Letzten sich auf den Weg machten. Da war die Spitze schon fast an der Siegessäule angekommen - immerhin ein Weg von etwa drei Kilometern.



"Jetzt abschalten!" und "Fukushima, Tschernobyl, was zu viel ist, ist zu viel", schallte es unterwegs immer wieder aus tausenden von Kehlen. Besonders als die CDU-Parteizentrale passiert wurde, taten die Massen ihren Unmut lauthals kund. Viele trugen "Atomkraft? Nein danke"-Sticker, Fahnen, Luftballons und fantasievolle Plakate. Bundesweit reihten sich nach Veranstalterangaben rund 250.000 Menschen in den bunten Protest ein.



Spott für Brüderle und Westerwelle

Dabei hatten sie für die Bundesregierung aber nicht nur Kritik übrig. Ungeahnten Zuspruch erhielt beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle. Ob er sich darüber freute, ist aber eher zweifelhaft: "Brüderle, wir glauben dir", verkündete ein Plakat in Anspielung auf dessen angebliche Aussage, dass es sich beim Moratorium der Bundesregierung um Wahlkampftaktik handelt. Und auch gegen seinen FDP-Parteichef hatten die Demonstranten eine Spitze übrig: "Sympathie für Atom, endet wie das alte Rom", hieß es. Die Leute haben Guido Westerwelles Äußerungen zur Dekadenz im alten Rom im Zusammenhang mit Hartz-IV-Empfängern nicht vergessen. Andere Aufschriften erklärten, dass "in Zukunft nur noch die Sonne strahlen soll".



Trotz aller Verärgerung über die Regierenden war die Stimmung im Demonstrationszug gelöst bis heiter, von Aggression war keine Spur. Mehrere Bands und Blaskapellen empfingen die Protestierenden unterwegs am Straßenrand. Auch im Demonstrationszug selbst fanden sich Gitarrenspieler, die ihre selbst komponierte Anti-Atomkraft-Songs zum Besten gaben.



"Atomkraft ist zu groß ist für den Menschen"

Lautstark, aber friedlich ging auch die abschließende Kundgebung auf der Straße des 17. Juni über die Bühne. "Es ist an der Zeit, endlich Konsequenzen zu ziehen, zu erkennen, dass Atomkraft schlicht zu groß ist für den Menschen", rief DGB-Chef Michael Sommer den Demonstranten zu. Auch Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), sprach von der Hybris des Menschen, zu glauben, dass die Technologie beherrschbar sei. "Wir brauchen keine Ethikkommission, wir wissen bereits, dass die Kernkraft nicht verantwortbar ist", sagte Weiger unter tosendem Beifall aus der unüberschaubar großen Menge.



Ruhe kehrte nur bei einer Schweigeminute für die Opfer der Katastrophe in Japan ein. Da war echte Betroffenheit in den Gesichtern zu erkennen und man konnte spüren: Die Bewegung hat nicht vor, ihren Kampf gegen die Atompolitik aufzugeben, bis sie ihn gewonnen hat.