Neue Erdbeben, weitere Tsunami-Warnungen und eine Explosion in einem weiteren Kernreaktor

Ein neuer Tag der Schrecken

Der neue Tag begann in Tokio wie eine Täuschung: Es war ruhig, bei milden Temperaturen schien über Japans Hauptstadt die Sonne. "Das Wetter ist schön, bisher hat es nicht gebebt", sagte Sven Saaler, Professor für Geschichte an der Sophia-Universität in Tokio der Nachrichtenagentur dapd gegen 08.30 Uhr (Ortszeit).

 (DR)

Eine kleine Erholungspause für eine Nation, die zu den modernsten und stärksten Industriestaaten der Welt zählt - und die von der Natur innerhalb weniger Stunden in ihrem Innersten erschüttert wurde. Erdbeben, Tsunami, die folgenden Atomunfälle - sie haben den Nordosten des Landes teilweise lahmgelegt, vermutlich Zehntausende getötet und Hunderttausende obdachlos gemacht. Nichts ist mehr, wie es war. Und auch die Ruhe dieses Morgens endet abrupt, als gegen 9.10 Uhr erneut ein starkes Beben die Hauptstadt erschüttert, Magnitude 6,2.



Spätestens dies war der Beginn zu einem Wochenauftakt mit neuen Schrecken. Dass an der Börse der Nikkei-Index nach Handelsbeginn um rund fünf Prozent fiel, war kaum überraschend, auch wenn die japanische Zentralbank mit einer Finanzspritze in Höhe von umgerechnet 61,4 Milliarden Euro reagierte. Was die Menschen vor allem im Nordosten Japans erschütterte, waren drei Nachrichten, die kurz nach elf Uhr Ortszeit in schneller Folge verbreitet wurden: Die Regierung warnte vor einem bevorstehenden Tsunami mit drei Meter hohen Wellen. In der Präfektur Miyagi seien 2000 Tote gefunden worden. Und vom Reaktor Nummer 3 der Nuklearanlage in Fukushima steige eine gewaltige Rauchwolke auf. Dort habe es in der äußeren Hülle eine Wasserstoffexplosion gegeben. Mehrere Arbeiter seien verletzt worden.



Diese Nachrichten trafen auch hunderttausende aus völlig verwüsteten Orten geflohene oder wegen der radioaktiven Gefahr evakuierte Menschen, die sich kaum vom Schock der bisherigen Katastrophe erholt hatten. Fernsehbilder zeigten Frauen, Kinder und Männer in Notunterkünften, die eingehüllt in Decken Suppe schlürften, schliefen oder Zeitung lasen. Währenddessen kämpften sich in den vom Tsunami zerstörten Gebieten Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden durch Geröll und Schutt.



Japans Premierminister Naoto Kan seine Landsleute auf, Entschlossenheit im Umgang mit der Krise zu zeigen und gemeinsam mit der Familie, mit Freunden und Nachbarn am Aufbau Japans zu arbeiten.



Unsicherheit und Verwirrung in Tokio

Doch zumindest am Morgen zeigte sich selbst im relativ sicheren Tokio Unsicherheit und Verwirrung. Für die Hauptstadt war zunächst für sechs Uhr eine mehrstündige Stromsperre angekündigt worden. In einem Rotationsverfahren sollten nach und nach auch andere Regionen und Städte davon betroffen sein. Später hieß es, die Abschaltung sei auf zehn Uhr verschoben worden. "Aber ich habe den Eindruck, dass es vielleicht gar nicht mehr dazu kommt", vermutete Sven Saaler.



Er sollte recht behalten. Doch schon die Ankündigung von Stromsperren hatte Folgen. Bahnlinien dünnten ihr Angebot vorsorglich aus, weshalb viele Bahnhöfe überfüllt waren. Dabei hatten große Firmen wie Toyota oder Sony bereits angekündigt, die Produktion am Montag nicht anlaufen zu lassen. Und die Regierung hatte die Menschen aufgefordert, angesichts drohender Stromengpässe und absehbarer Probleme im Nahverkehr nicht zur Arbeit oder zur Schule zu gehen.



"Die Leute sind verunsichert. Sie wissen nicht, ob Sie zur Arbeit gehen müssen oder nicht", sagte Sven Saaler während eines Telefongesprächs mit der Nachrichtenagentur dapd. Die Erwartungen der Unternehmen waren offenbar auch sehr unterschiedlich. Ein Sprecher von Canon sagte der Nachrichtenagentur dapd, dass an acht Canon-Betriebsanlagen nicht gearbeitet würde. In der etwa 100 Kilometer nördlich Tokios gelegenen Stadt Utsunomiya beispielsweise seien Gebäude beschädigt und 15 Mitarbeiter leicht verletzt worden. In Tokio dagegen rechnete er damit, dass die Canon-Angestellten trotz der Verkehrsprobleme in die Büros kommen würden.



Noch keine kritische Diskussion über Ursachen der Katastrophe

Eine kritische Diskussion über die Ursachen der Katastrophe ist in Japan bisher noch nicht aufgekommen. "Dazu ist es noch zu früh", meint Saaler, "solange die Situation so kritisch ist wie bisher, wird kaum jemand die Regierung angreifen". Bisher würden lediglich hier und da Fernsehmoderatoren ganz vorsichtig darauf hinweisen, dass die Regierung die Kernkraftwerke immer als sicher bezeichnet habe.



Für die Zukunft hält Saaler es allerdings für möglich, dass die aktuelle Krise dazu führt, dass die Regierung den geplanten Ausbau der Nuklearkapazitäten nicht umsetzen wird. Laut Plan wollte Japan in den kommenden fünf Jahren noch 14 weitere Atomkraftwerke fertigstellen lassen.