Die Zahl der Kirchenaustritte steigt

"Es geht um Entfremdung"

Immer mehr Christen kehren ihrer Kirche den Rücken zu, alleine in Bayern 2010 über 60.000 Katholiken. Ursache ist für den Jesuiten Stephan Lipke nicht nur der Missbrauchsskandal. Bei Vielen sei ein langer Prozess der Entfremdung vorausgegangen, so der Münchner Seelsorger im Interview mit domradio.de. Ihr Vertrauen könne die Kirche nur langsam zurückgewinnen.

 (DR)

domradio.de: Immer wieder wird die Schuld für Kirchenaustritte auf einfache Erklärungen zurückgeführt. Glauben Sie, dass es nur die Missbrauchsfälle sind, die die Menschen aus der Kirche austreten lassen?

Lipke: Die Missbrauchsfälle oder ein Jahr vorher die Sache mit der Piusbruderschaft - das sind immer wieder Anlässe, die Menschen austreten lassen. Das ist aber nicht der einzige Grund. Ein Grund scheint mir auch zu sein, dass dem bei Vielen ein langer Prozess der Entfremdung vorausgegangen ist. Wenn ich von der Kirche nur wüsste, was in solchen Zusammenhängen in der Zeitung steht, würde ich auch austreten. Warum sollte ich drin bleiben? Es geht also um Entfremdung - und dann kommt so eine Sache hinzu. Aber man muss auch sehen: Es sind im letzten Jahr auch Menschen ausgetreten, die sich ein, zwei Jahre vorher noch als engagierte Katholiken verstanden haben. Das ist natürlich schon alarmierend.



domradio.de: Welche Rolle spielt der Zölibat dabei?

Lipke: Das ist schwer zu sagen. Es gibt schon viele Menschen, die sagen: Den Zölibat kann ich nicht verstehen, warum macht die Kirche das? Aber deswegen alleine würden Menschen sich nicht austreten. Was vorkommt, ist, dass sie sagen: Durch den Zölibat haben wir keinen Pfarrer mehr, dadurch keinen Kontakt mehr zur Kirche oder durch den Zölibat kommt es, dass uns die Priester nicht verstehen. Ob das stimmt oder nicht, ist eine andere Frage. Das führt dann vielleicht dazu, dass Menschen austreten.



domradio.de: Oft wird die Schuld für das Entfremden der Menschen von der Kirche in Rom gesucht. Können die Bischöfe in Deutschland nicht aber viel eher Lösungen finden, um auf die Situation hier einzugehen?

Lipke: Die Bischöfe in Deutschland müssen eine ganze Menge tun. Der vielleicht wichtigste Punkt wäre, dass überhaupt zum Beispiel Bischöfe auf die Menschen hören, auf Fragen und Kritik hören und wirklich versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Es ist der so genannte Dialogprozess in Gang gekommen, von Seiten der Deutschen Bischofskonferenz angestoßen, und das ist eine gute Idee. Wichtig ist aber, dass wirklich Dialog stattfindet. Also: Einer, der kritisiert, ist kein Nestbeschmutzer, sondern einer, der ein ernst zu nehmendes Anliegen hat. Jeder Vorgesetzte in der Kirche sollte das ernst nehmen und schauen, wie er darauf eingehen kann; auch sagen, warum er auf manche Dinge nicht eingehen kann, aber das Anliegen ernst nehmen und nicht die Sache abbügeln.



domradio.de: Denken Sie, dass die Menschen, die einstmals engagiert waren und jetzt ausgetreten sind, nicht ernst genommen fühlten?

Lipke: Viele fühlen sich nicht verstanden und haben das Gefühl, man geht auf ihre Sorgen nicht ein. Bei Engagierten ist das nicht zuletzt die Sorge um die eigene Pfarrei. Andere sagen: Ich vertraue den Bischöfen, ich vertraue dem Papst, ich vertraue dem Pfarrer nicht mehr. Seit dem Missbrauchsskandal ist das noch dramatischer geworden.



domradio.de: Was können wir tun?

Lipke: Es gibt nicht eine Lösung, die man jetzt aus dem Hut zaubern könnte und sagen könnte, das muss man nur machen und damit wird sich das ganze Problem erledigt haben. So bequem wird das nicht sein. Sondern: Zuhören und Schritt für Schritt überlegen, was muss geändert werden, was muss anders erklärt und vermittelt werden? So wird das zu einem langsamen Weg, Vertrauen wiederzugewinnen. Vertrauen geht schnell verloren - aber lässt sich nur nach und nach wiedergewinnen. Und das ist auch wichtig: dass die Kirche auch an sich arbeitet. Und nicht nur jetzt ein halbes Jahr, um diese Krise zu überwinden, sondern auf Jahre und Jahrzehnte, eigentlich. Aber gerade auch in den nächsten Jahren.



Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.