Menschenrechtler mahnen EU zu Öffnung regulärer Migrationswege an

"Italien genau beobachten"

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat vor dem Hintergrund der Situation auf Lampedusa an die EU appelliert, die Wege regulärer Migration zu öffnen. Zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika sei es wichtig, den Fokus auf Solidarität zu richten. "Und nicht auf Abwehr", sagte Europareferent Karl Kopp im Interview mit domradio.de.

 (DR)

domradio.de: Wie bewerten Sie die Situation in Lampedusa?

Kopp: Momentan ist die Situation in Tunesien noch instabil. Wir freuen uns alle über die Demokratisierungsprozesse in Nordafrika. Aber dennoch ist jetzt eine schwierige Übergangsphase. Und es wäre nun das Gebot der Stunde, solidarisch mit diesen Ländern zu sein und die Menschenrechte einzuhalten. Da muss man vor allen Dingen in Italien genau beobachten, ob die Menschenwürde gewahrt wird bei der Ankunft der Bootsflüchtlinge. Wir haben da unsere Zweifel.



domradio.de: Warum meinen Sie denn, dass der Flüchtlingsstrom bald noch größer werden wird?

Kopp: Man hat jahrelang mit Hilfe korrupter Diktatoren in Nordafrika praktisch den Fluchtweg nach Europa verriegelt. Deshalb hatten wir auch mehr Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind. Und das bricht jetzt zusammen. Es kann sein, dass die repressiven Maßnahmen der EU oder Italiens momentan nicht greifen. Dementsprechend ist ein Fluchtweg offen, ein Migrationsweg auch zum Teil. Wie lange der offen bleibt, wissen wir nicht. Und von daher können wir angesichts der schwierigen Übergangssituation, der Sicherheitsbedenken, die ankommende Flüchtlinge äußern, davon ausgehen, dass noch mehr kommen.



domradio.de: Italiens Innenminister hat den Notstand ausgerufen und fühlt sich von der EU allein gelassen. Hat er denn, ihrer Meinung nach, Recht mit seiner Einschätzung?

Kopp: Herr Maroni ruft immer den Notstand aus, egal wie viele Leute kommen - auch um auch seinen nächsten Tabubruch vorzubereiten. Sein Tabubruch diesmal wäre gewesen, italienische Polizisten nach Tunesien zu schicken oder einen Frontex-Einsatz zu befördern. Da hat Tunesien gesagt, das wollen wir nicht und haben es auch als rassistischen Diskurs disqualifiziert. Im Moment ist es noch kein Notstand, wenn Italien die Menschen menschenwürdig aufnimmt. Aber: Wenn mehr kommen, ist sicherlich europäische Solidarität gefragt. Europa muss sich gemeinsam mit Italien überlegen, ob man Fluchtwege offenhält für Schutzsuchende und ob man Migrationsangebote macht an die noch sehr jungen Demokratien Tunesien und Ägypten, um Menschen einen legalen und gefahrenfreien Weg nach Europa zu eröffnen - und damit auch solidarisch zu sein mit dieser Demokratiebewegung, die wir ja alle wollten.



domradio.de: Was sind das denn für Menschen, die jetzt nach Europa wollen aus Tunesien?

Kopp: Es sind Frauen, die Sicherheitsbedenken haben, weil immer noch marodierende Polizeieinheiten des alten Regimes Gefahren im Alltag produzieren. Zum anderen sind es junge Leute, die endlich ihre Familien ernähren wollen. Für beide sollte man Schutz- und Migrationskanäle eröffnen. Aber es sitzen in Tunesien und Ägypten auch sogenannte Transitflüchtlinge fest, die aus anderen Staaten kommen, dort keinen Schutz finden, die diesen Schlupfweg nutzen wollen, um Sicherheit und Menschenwürde zu erreichen. Das kann noch kommen, wir wissen noch nicht, wie sich die Verhältnisse in den nächsten Tagen entwickeln. Wichtig ist, den Fokus auf Solidarität und Menschenrechte und nicht auf Abwehr zu richten.



Das Gespräch führte Christian Schlegel.