Demonstranten fordern in Kairo ein anderes Ägypten

"Deine Zeit ist vorbei"

Mehr als eine Million Ägypter protestieren landesweit auch nach Einbruch der Dämmerung noch ungebrochen gegen das Mubarak-Regime - und das Militär lasst sie gewähren. Vom "Marsch der Millionen" in Kairo berichtet für domradio.de Karin Leukefeld

 (DR)

Seit den frühen Morgenstunden dröhnt laute Musik aus großen Lautsprechern vor dem Außenministerium an der Corniche al-Nil im Zentrum von Kairo. Als kurz nach acht Uhr, dem Ende der Ausgangssperre, die ersten Autos und Fußgänger den Nil von Zamalik her in Richtung Innenstadt überqueren, meldet sich per Lautsprecher ein Redner zu Wort. Er verspricht, dass sich die Regierung der Sorgen der Menschen annehmen werde, damit dem Land Frieden und Wohlstand erhalten bleibe.



Ein Mann hält ein T-Shirt in die Luft, von dem Präsident Hosni Mubarak entrückt lächelnd herabsieht. Ein paar Dutzend Männer schwenken die ägyptische Fahne und blicken verunsichert, einige auch düster den Menschen hinterher, die zügig an ihnen vorbei die Uferstraße entlang in Richtung Tahrir-Platz laufen, dem Platz der Befreiung. Während die einen - vermutlich aus Angst vor Verlust ihres Arbeitsplatzes - das Regime Mubarak weiter hochleben lassen, fordern die anderen auch an diesem Tag den Rücktritt jenes Mannes, der das Land seit 30 Jahren regiert.



Nur selten entsteht ein kurzes Wortgefecht; es wird rasch von Soldaten beendet, die seit Tagen das Nilufer zwischen der Brücke des 15. Mai und der Brücke gesperrt haben, die auf den Tahrir-Platz führt. Dort trifft sich seit einer Woche ein breites Spektrum der Gesellschaft und fordert den Rücktritt Mubaraks.



"Gerechtigkeit, Demokratie, freie Wahlen"

"Deine Zeit ist vorbei, jetzt bin ich an der Reihe", hat ein junger Mann auf ein Stück Karton geschrieben. "Wir verdienen ein besseres Leben", steht auf dem Stück Papier, das ein anderer in die Höhe hält. "Mubarak, wir hassen dich", steht in Englisch auf dem Plakat, das sich ein alter Mann umgehängt hat. "Bitte geh, damit die Ägypter in Frieden leben können." Manche harren seit Tagen auf dem Platz aus, schlafen, essen, beten dort. "Beim Freitagsgebet haben die Christen eine schützende Kette um uns gezogen", sagt einer. "Wir alle sind Ägypter."



Hunderttausende wollten an diesem Tag zum Präsidentenpalast in Heliopolis marschieren, um Mubarak ihre Botschaft zu überbringen. Ob der Marsch tatsächlich stattfinde, sei nicht so wichtig, sagt ein junger Mann auf dem Tahrir-Platz. "Wenn heute eine Million Menschen hier oder woanders in Ägypten protestieren, ist die Botschaft an Mubarak klar: Er muss gehen." Zum ersten Mal in seinem Leben fühle er sich als "mündiger Bürger" und nicht als Untertan, fährt der Mann fort. Alle Teile der Gesellschaft seien vertreten: "Männer, Frauen, Alte, Junge, Christen, Muslime, Reiche und Arme".



Sein Nachbar, ein dunkelhäutiger, großer Mann vom oberen Nil, ist der Taxifahrer Mohamed. Er hat den Arm um seinen Sohn Hazim geschlungen, der eine ägyptische Fahne um die Schultern gelegt hat. 1.200 ägyptische Pfund müsse er monatlich an einen Privatlehrer zahlen, damit seine Kinder eine ordentliche Schulbildung bekämen, sagt der Taxifahrer. Er habe keine Angst, egal was der heutige Tag auch bringen mag. "Wir können nur noch gewinnen", meint er: "Gerechtigkeit, Demokratie, freie Wahlen."



"Wir Ägypter respektieren jede Religion"

Während am Nachmittag immer mehr Menschen auf den Tahrir-Platz strömen, liegen die Straßen in der benachbarten Gartenstadt, einem Viertel mit Banken, Luxushotels und Botschaften, wie ausgestorben. Magic L., Ägypterin mit Schweizer Pass, will Freunde in einem der Hotels treffen. Sie war drei Jahre alt, als die freien Offiziere unter Führung von Gamal Abdul Nasser 1952 in Ägypten die Macht übernahmen. Die traumatische Erinnerung des brennenden Kairo verfolge sie bis heute.



"Diese Demonstranten sind ungebildete Leute, die nicht wissen, was sie tun", zeigt sich die Frau überzeugt, die erst vor drei Jahren nach Ägypten zurückkehrte. "Erst demonstrieren sie, dann zünden sie Häuser und Autos an, morden und plündern." Selbst wenn es darunter Ärzte und Anwälte gebe, seien sie nicht so gebildet, wie man es aus Europa kenne. "Die Muslimbruderschaft versucht auf allen Wegen, an die Macht zu kommen, auch wenn sie das Gegenteil behauptet."



Taxifahrer Mohamed auf dem Tahrir-Platz ist da anderer Meinung. "Niemand braucht Angst zu haben, dass Ägypten wie der Iran wird", sagt er. "Wir sind ganz andere Menschen." Die Muslimbrüder seien Teil der Gesellschaft und damit auch Teil der politischen Zukunft des Landes. "Sehen Sie sich um und reden Sie mit den Leuten: 80 Prozent hier wollen Reformen und eine säkulare Regierung. Denn wir Ägypter respektieren jede Religion."