Tallinn ist Kulturhauptstadt 2011

Die Schöne im Norden

Reval kennen wohl die meisten nur noch als Zigarettenmarke. Reval heißt aber auch die Europäische Kulturhauptstadt 2011. Reval, das ist der Jahrhunderte alte deutsche Name der estnischen Ostseemetropole Tallinn. Auferstanden aus Ruinen, präsentiert sich die Schöne im Norden heute als eine der intaktesten mittelalterlichen Städte des Kontinents: jung, kreativ und anziehend.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Die Zahl ihrer Geschichten allein qualifiziert Tallinn zu einer Hauptstadt Europas - hat sie doch eine dänische, eine deutsche, eine schwedische, eine russische und eine finnische Geschichte; die baltische und die estnische natürlich nicht zu vergessen. Das heutige Estland war im Spätmittelalter Teil Alt-Livlands, aufgeteilt zwischen den Kreuzrittern des Schwertbrüderordens, zwei Bischöfen und dem dänischen König. Der Hauptort Reval war zugleich eine wichtige Hansestadt mit einer deutschen Bürgerschaft, die sich von der jeweiligen Obrigkeit ihre weitreichenden Handelsrechte fein verbriefen ließ.



Die verwinkelten Straßenverläufe, die kleinen und großen Plätze innerhalb der vollständig erhaltenden Stadtbefestigung: Problemlos könnte man noch heute einen Historienfilm über das Reval vor 500 Jahren drehen - an Originalschauplätzen. Vor allem die alten Bürger- Handels- und Lagerhäuser aus dem 14. und 15. Jahrhundert zeigen, wie die Warenströme und die Konjunkturkurve damals verliefen: nach oben. Viele Fassaden weisen die typische Dachlukentür auf, in die über eine Rolle Salz, Tee, Mehl und andere Handelswaren in die Speicher gehievt wurden.



Ab 1917/18 Tallin

Im Wechsel der Zeitläufte, auch nach dem Untergang Alt-Livlands 1558, blieben die Baltendeutschen eine bestimmende Kraft im Ostseeraum, ja sie gelangten bis in den russischen Hochadel und zu einflussreichen Positionen bei Hofe. Die Oktoberrevolution und der gesamteuropäische Umbruch 1917/18 schließlich brachten auch ein Ende des deutschen Namens "Reval": Tallinn hieß nun die Hauptstadt einer kurzlebigen unabhängigen Republik Estland, zermalmt im Juni 1940 durch den Hitler-Stalin-Pakt.



Trotz seines strategisch eminent wichtigen Ostseehafens bringt die Zeit der "Sowjetrepublik" Estland Tallinn einen weiteren Niedergang. Der Widerstandsgeist der estnischen Nation freilich war auch durch Moskauer Umsiedlungsmaßnahmen nicht unterzukriegen: Die traditionelle Chor- und Sangeskultur der Esten formte sich 1988 zu einem unüberhörbaren politischen Protest, als auf dem Sängerfestplatz von Tallinn rund 300.000 Menschen die verbotene Nationalhymne "Mu isamaa, mu önn ja rööm (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude) sangen.



Dieser "Singenden Revolution" und dem Aufbruch in die lang ersehnte Freiheit 1989/90 folgte arge Ernüchterung: Die Implosion der Sowjetunion zog zuallererst einen Zusammenbruch der Versorgung nach sich. Lebensmittelknappheit, Hyperinflation, Zukunftsängste - das war die neue Realität in den baltischen Ländern Anfang der 90er Jahre. Dazu die stete Angst vor einer Rückkehr der Russen.



Zum Musterknaben der EU-Reformstaaten

Die Einführung der estnischen Krone 1993 und auch die Nähe zu Finnland sorgten schließlich dafür, dass sich das Land berappelte - und zum Musterknaben der EU-Reformstaaten wurde. Die jüngste Regierung Europas; der erste virtuelle Kabinettssaal per Online-Schaltung: Mit solchen Schlagzeilen sorgte die Wiege von Skype und WLAN für Erstaunen. Zugleich klafft auch hier wie anderswo im Postkommunismus die Schere zwischen Wendegewinnern und -verlierern.



Das alles und noch viel mehr ist 2011 in und rund um die Ostsee-Metropole Tallinn zu besichtigen: ein äußerst reichhaltiges Kulturprogramm aus Geschichte und Gegenwart; schmucke Jugendlichkeit und Lebensfreude; aber auch Bangen und Trotzen in den Nachwehen einer schweren Wirtschaftskrise.