Der Tübinger Ethiker Dietmar Mieth feiert 70. Geburtstag

"Fragen der Zukunft sind sozialethischer Natur"

Der katholische Moraltheologe und Ethiker Dietmar Mieth feiert seinen 70. Geburtstag. In einem Interview schilderte er seinen Werdegang, äußerte sich aber auch zur WM-Vergabe, zur Tour de France und den Wikileaks-Veröffentlichungen.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

KNA: Herr Professor Mieth, wie sind Sie zur Moraltheologie gekommen?

Mieth: Als Student habe ich das Fach nicht besonders stark wahrgenommen. Mein größtes Interesse galt zunächst Meister Eckhart. Es ging mir um Mystik, Spiritualität, um Lebenskunst auf dem Boden einer starken christlichen Motivation.



In Würzburg habe ich als theologischen Lehrer Alfons Auer kennengelernt, ohne den ich nie Moraltheologe geworden wäre. Er wechselte 1966 nach Tübingen, und ich folgte ihm nach meiner Promotion als Assistent. In dieser Zeit begann die Erneuerung der Moraltheologie. Auch Auer und mir ging es um eine theologische Ethik, die von den moralischen Erfahrungen der Menschen ausging.



KNA: Sie wurden dann weltweit der erste Laie, der einen Lehrstuhl für Moraltheologie bekam.

Mieth: Ja, während der Assistenzzeit habe ich habilitiert. Das war nicht einfach, weil Laien das damals in den theologischen Kernfächern nicht durften. Um ein Haar wäre ich mit meinem Versuch einer narrativen Ethik in der Germanistik gelandet. Doch dann hob die Deutsche Bischofskonferenz die Habilitationssperre auf, und ich bekam einen Lehrstuhl in Fribourg. Die Dominikaner dort interessierten sich nicht so sehr für die Frage, ob ich Priester oder Laie war. Für sie war wichtiger, dass ich über ihr Ordensmitglied Meister Eckhart gearbeitet hatte.



Später wechselte ich nach Tübingen, an die Universität, unter anderem mit Erinnerungen an Joseph Ratzinger und Hans Küng. Für mich war das damals auch wegen der evangelischen Fakultät der Ort, wo man weltweit am besten Theologie treiben konnte.



KNA: Sie haben in Ihrer Laufbahn Bundestag, Bundesregierung und die Europäische Kommission beraten. Rückblickend: Ist das der Hilferuf der Politik nach ethischer Orientierung oder eine Instrumentalisierung von Philosophie und Theologie?

Mieth: Ganz sicher auch eine Instrumentalisierung. Ethik ist - ganz unabhängig von Theologie und Philosophie - ein zweideutiges Phänomen. Sie gilt als nützlich, weil es um moralische Akzeptanz geht. Gleichzeitig ist ihre explizite Einbeziehung ein Instrument, das gebraucht und zur Seite gelegt wird. Die Möglichkeit, etwas auszurichten, ist manchmal gering. Das sieht man in den

Ethikkommissionen: Da wird oft Ethik als das verstanden, was mutmaßlich in der Zukunft mehrheitlich gedacht wird. Nicht überall, wo Ethik draufsteht, ist auch welche drin.



Und als katholischer Theologe muss ich ergänzen: In den vergangenen Jahrzehnten ist die philosophische Ethik geradezu explodiert - und hat die Theologie in Grundsatzfragen abgehängt. Heute ist es als Theologe nicht mehr leicht, etwa in Gerechtigkeitsfragen gehört zu werden. Wir haben die Meinungsführerschaft verloren. Man findet daher eher als Ethiker denn als Theologe öffentliches Gehör.



KNA: Wo sehen Sie den größten Beratungsbedarf in der Politik?

Mieth: Im Hinblick auf den Menschen selbst. Es besteht die Gefahr, dass der Mensch sich in seiner Selbstmanipulation verplant und verliert. Auch soziale Solidarität sowie die weltweiten Probleme Armut, Umwelt und Gewalt sind Themen. Die Fragen der Zukunft sind sozialethischer Natur.



KNA: Sie sind ein Experte für interdisziplinäres Denken. Haben heute mehr Forscher einen Sinn dafür?

Mieth: Wissenschaftler mit einem Faible für interdisziplinäres Denken sind immer noch eine Minderheit. Die Masse ist in der üblichen Forschungsbetriebsamkeit eingegliedert. Die fragt nicht:

Was tue ich eigentlich? Es geht nach vorne und nicht um die grundsätzlichere Frage, ob das gut ist.



KNA: Stimmt der Eindruck, dass seit Jahren kein renommierter Moraltheologe Grundsätzliches über Sexualität publiziert?

Mieth: Eine interessante Frage. Mir wurde selbst früher Sexualethik mit der Begründung zugeschoben, ich sei Laie. Von Kardinälen und Bischöfen wird der Satz kolportiert: Wenn Ihr etwas werden wollt, dann haltet Euch von dem Thema fern.



KNA: Themenwechsel. Sie sind auch ein begeisterter Sportfan. Welches Gefühl beschleicht Sie, wenn Sie an die WM-Vergabe nach Russland und in das fußballverrückte Katar denken?

Mieth: Die Vergabe solcher Veranstaltungen durch Josef Blatter und seine Kamarilla habe ich schon immer als problematisch empfunden. Aber es wird vermutlich, vorsichtig formuliert, Segnungen auf Gegenseitigkeit gegeben haben.



In Katar gibt es keine gewachsenen Fußballstrukturen. In Russland ist das anders, aber dort fehlt der demokratische Mutterboden. Doch die Wörter Fifa und Moral passen nicht gut zueinander. Es geht bei einer WM letztlich um einen Event, und daran sind wir als Publikum nicht ganz unschuldig. Wie bei der Tour de France. Es sollte aus meiner Sicht moralisch diskreditiert werden, Tour de France zu schauen. Denn jeder weiß: Ohne Doping geht das nicht.



KNA: Und wie beurteilen Sie die Wikileaks-Veröffentlichungen?

Mieth: Es ist schwer, solche Dinge im Nachhinein zu bewerten.



KNA: Sollten weitere Papiere dieser Art ins Netz gestellt werden?

Mieth: Nein. Das meiste ist Diplomaten-Small-Talk. Und mich interessiert nicht die Bohne, was der amerikanische Botschafter vom deutschen Außenminister hält. Es ist einfach indiskret, unnötig und peinlich - genauso wie das Interesse der Öffentlichkeit daran.