Die Gewalt gegen Christen erschüttert ein ganzes Land

Schutzlos im Irak

Unter großer öffentlicher Anteilnahme sind am Dienstagnachmittag 15 der 46 ermordeten Christen in Bagdad beigesetzt worden. Mehr als 700 Christen sowie irakische Regierungsvertreter und Vertreter des öffentlichen Lebens nahmen an dem Gottesdienst in der Bagdader Kirche St. Josef-Karrada teil. Das Land versinkt derweil immer mehr im Chaos.

Autor/in:
Karin Leukefeld
 (DR)

"Was ist aus unserem Land geworden! Wie sollen wir hier noch leben?" Suha al-Turaihi ist fassungslos über das Massaker in der chaldäisch-katholischen Kirche in Bagdad, die den schönen Namen "Our Lady of Salvation" trägt. Die 73-jährige ehemalige Diplomatin schiitisch-muslimischer Konfession bricht in Tränen aus. Früher habe sie geglaubt, die Menschen seien gut oder könnten sich zum Guten hin ändern, wenn sie frei und unabhängig seien. "Aber nicht im Irak! Was hier passiert, ist tiefstes Mittelalter."



Seit den ersten Meldungen über die tödlichen Ereignisse an Allerheiligen reißt die Flut von Protesten und Beileidsbekundungen nicht ab. Papst Benedikt XVI. und der Vatikan, europäische Außenminister und Regierungschefs äußerten ihr Entsetzen. Der Leiter des Christlichen Stiftungsfonds im Irak, Abdullah Al Nawfali, warnte ebenso wie die irakische Menschenrechtsministerin Wijdan Mikhael vor einer neuen Abwanderungswelle der Christen aus dem Land.



Kirche war wohl gar nicht das eigentliche Ziel

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international bezeichnet die Tat als "Kriegsverbrechen", im Libanon verurteilten Vertreter sämtlicher Parteien und religiöser Gruppen die mörderische Gewalt. Christen sollten offenbar "von Terroristen aus dem Mittleren Osten vertrieben" und die "arabische Landkarte neu gezeichnet" werden, erklärte der sunnitische Großmufti Mohammad Raschid Qabbani. Die schiitische Hisbollah sprach von einem "terroristischen Verbrechen".

Solche Anschläge habe die Region vor der US-Besatzung nicht gekannt.



Offenbar war die Kirche gar nicht das Ziel der Angreifer. Sie hatten zunächst die irakische Börse anvisiert, die sich in deren unmittelbarer Nähe im Stadtteil Karrada befindet. Wachleute schlugen sie dort zurück und verfolgten sie, woraufhin die Gruppe in das Gotteshaus flüchtete. Über Handys forderten die Geiselnehmer anschließend die Freilassung von Gefangenen der Terrorgruppe El Kaida in irakischen und ägyptischen Gefängnissen.



Auf einer vom US-Unternehmen SITE überwachten Webseite erschien später eine Erklärung der Gruppe "Islamischer Staat im Irak", in der der koptischen Kirche in Ägypten ein 48-Stunden-Ultimatum gegeben wurde, um angeblich festgehaltene muslimische Frauen freizulassen.

Wer sich hinter der Organisation verbirgt, ist bislang unklar. Damit unterzeichnete Flugblätter schüchtern jedenfalls im ganzen Land die Menschen ein. Nach Meinung von Experten verbergen sich dahinter kriminelle Banden, die so auch die ein oder andere politische Botschaft absetzen.



Chaos aus Anschlägen, Arbeitslosigkeit und Korruption

Die nicht enden wollenden Anschläge auf Christen lassen Iraker aller Konfessionen an ihrem Land verzweifeln. Das zeigt nicht nur die Reaktion der ehemaligen Diplomatin Suha al-Turaihi. Der oberste schiitische Geistliche im Irak, Großajatollah Ali Al-Sistani in Najaf, forderte die Sicherheitskräfte nachdrücklich auf, alle Menschen im Land besser zu schützen. Al-Sistani spricht damit das Drama hinter dem Drama an: Der Staat gleitet kontinuierlich in ein Chaos aus Anschlägen, Arbeitslosigkeit und Korruption ab; dazu kommt ein zunehmender Mangel an Wasser und Elektrizität.



"Jede verantwortungsbewusste Regierung wäre längst zurückgetreten", vermutet der aus Mossul gebürtige Khair El-din Haseeb, der das Zentrum für Studien der Arabischen Einheit in Beirut leitet. Seit den Parlamentswahlen im März gibt es noch immer keine funktionierende Regierung. Dafür verantwortlich machen viele den bislang amtierenden Regierungschef Nuri al-Maliki. Obwohl sein Bündnis bei den Wahlen nur auf dem zweiten Platz landete, weigert er sich, sein Amt zu räumen und einer Regierung der "Nationalen Einheit" zuzustimmen, die die Wahlen knapp gewann.



Neue Anschläge

Noch während die ersten getöteten Christen am Dienstag unter großer Anteilnahme zu Grabe getragen wurden, explodierten in zehn weiteren Stadtvierteln der irakischen Hauptstadt Dutzende Bomben vor Cafes und Restaurants, auf Märkten und an Busstationen. Ziel waren diesmal Viertel mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. 63 Menschen starben, 285 wurden verletzt.



Der chaldäische Patriarch Kardinal Emmanuel Delly leitete gemeinsam mit dem syrisch-katholischen Bischofsvikar von Bagdad, Pios Kasha, die Feier. Er vertrat den syrisch-katholischen Erzbischof Athanase Matti Shaba Matoka. Delly betonte, die Christen ließen sich durch die Anschläge allerdings nicht aus dem Irak vertreiben: "Wir sind Kinder dieses Landes, und wir werden im Irak bleiben, Hand in Hand mit unseren muslimischen Brüdern, um den Namen des Iraks hochzuhalten".