Rita Süssmuth kritisiert Integrationsdebatte

„Jeden Tag polarisieren wir aufs Neue“

Die Debatte über die Integration von Muslimen geht weiter. Der neueste Beitrag, der Wellen schlägt: Horst Seehofer will Zuwanderung „aus anderen Kulturkreisen“ einschränken. „Die augenblickliche Diskussion spaltet mehr, als dass sie verbindet“, kritisiert Rita Süssmuth. Im Interview mit domradio.de lenkt die ehemalige Bundesministerin den Blick auf Gelungenes.

 (DR)

domradio.de: Sie haben mehr Offenheit gegenüber Migranten gefordert. Was genau meinen Sie damit?

Süssmuth: Ich meine eine Offenheit im doppelten Sinn: Wenn ich Einwanderer - insbesondere die, die meiner Kultur nicht angehören - nicht mehr wertschätze in ihren Leistungen, dann kann es auch keine Integration geben. Denn Integration ist ein wechselseitiger Prozess von Wertschätzung und Anerkennung. Nur so kann ich auch den Menschen zeigen - ob Deutsche oder Nichtdeutsche: Ich weiß, in Dir steckt etwas, Du kommst weiter, ich fördere Dich. Das heißt: Wir brauchen mehr Öffnung im Miteinander. Und das ist noch am leichtesten in Kindergärten, Schulen, Betrieben und in der Gesellschaft. Wir haben heute das Problem, dass auch die Tüchtigen große Probleme haben, wenn sie den falschen Namen oder die falsche Hautfarbe haben. Das andere ist: Die augenblickliche Diskussion spaltet mehr, als dass sie verbindet. Jeden Tag polarisieren wir aufs Neue. Erst begann eine heftige Diskussion mit Sarrazin. Sobald verbindliche Töne kommen, die die Realität kommen, wie die vom Bundespräsidenten, dann wird auf ihm anerkannt - obwohl er sehr Differenziertes und Richtiges gesagt hat. Zum Teil werden seine Aussagen verzerrt aus dem Kontext herausgenommen. Er hat immer den Zusammenhang zwischen unserer Grundordnung, aber auch zwischen den Tatsachen gezogen. Wenn er sagt, inzwischen sind auch die Muslime auch ein Teil Deutschlands, dann beschreibt er eine Wirklichkeit, die Konsequenzen hat. Was passiert? Heftige Auseinandersetzungen, ob der Islam zu uns gehört oder nicht. Seit gestern haben wir die Frage: Migranten mobben Deutsche. All dies gibt es - aber der Blick wird im Augenblick völlig verstellt, für das, was von der Gesellschaft insgesamt geleistet worden ist für die Integration und was vor allen Dingen die Migranten selbst leisten.



domradio.de: Sie kritisierten, dass bei dem Thema Migration oft nur über Defizite von Zuwanderern debattiert werde. Was muss sich hier ändern?

Süssmuth: Warum sprechen wir nicht mehr über diejenigen, die wir in unseren Schulklassen als Schulsprecher treffen? Wer hat die Tore für Deutschland geschossen? Junge Menschen mit Migrationshintergrund.



domradio.de: Kann die Politik alleine dafür sorgen, dass Integration gelingt? Wer muss hier noch aktiv werden?

Süssmuth: Die Politik kann das nicht alleine. Bevor die Politik überhaupt mit Integration begann - und das ist erst ein paar Jährchen her -, hat die Zivilgesellschaft viel für das Zusammenleben geleistet. Wenn das nicht wäre, sähe es in Deutschland schlecht aus! Wir sind Jahrzehnte davon ausgegangen, dass die Einwanderer nicht in unserem Land bleiben. Wir haben Arbeitsverbote bis zu sechs Jahren gehabt. Und nun reden wir unentwegt davon, wie viel sie an Sozialleistungen entgegennehmen. Die große Mehrheit der Menschen, die in der Welt wandert, will bessere Lebensverhältnisse und arbeitet auch hart dafür.



Das Gespräch führte Pia Deuss.