Erfurter Bischof Wanke zu 20 Jahren deutsche Einheit

«Den Wettbewerb der Werte annehmen»

Am Sonntag jährt sich der Tag der Deutschen zum 20. Mal. Auf domradio.de erinnern sich Kirchenvertreter an 1990 und ziehen Bilanz. Den Auftakt macht der Erfurter Bischof Joachim Wanke, der dienstälteste Bischof in den neuen Bundesländern. Er verbindet die Wiedervereinigung Deutschlands mit einem «Gefühl der Freude und Dankbarkeit».

 (DR)

KNA: Herr Bischof, wie haben Sie den Tag der Wiedervereinigung erlebt?

Wanke: Ich erinnere mich an einen sonnigen Oktobertag, der ein wenig frisch war, aber von strahlender Helle. Wir hatten einen Festgottesdienst im Erfurter Dom, und wir haben viel telefoniert an diesem Tag mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit, der Tag bleibt mir unvergessen.



KNA: Welche Erwartungen haben Sie mit der staatlichen Wiedervereinigung verbunden?

Wanke: Zunächst - das muss ich bekennen - meinte ich damals, dass sie für die Kirche weniger von Bedeutung war als für die säkulare Gesellschaft. Aber später habe ich meine Einschätzung korrigiert.

Alle Lebensbedingungen haben sich doch grundlegend geändert. Als Christen müssen wir uns jetzt in einer freien, liberalen Gesellschaft bewähren, die uns herausfordert.



KNA: Welche Veränderung war für Sie die einschneidendste?

Wanke: Sicher das Ende staatlicher Gängelei, das DDR-System hat den Bürger entmündigt. Der plötzliche Wegfall der alten Lebensumstände erzeugte zunächst auch Angstgefühle, die verarbeitet werden mussten.



KNA: In welcher Hinsicht sind die Deutschen in Ost und West noch am weitesten voneinander entfernt?

Wanke: Es ist die Frage des Werts von Freiheit und Gleichheit. Im Osten gilt die Gleichheit für viele immer noch mehr als die Freiheit. Da wirken noch die Prägungen des alten Systems nach. Es ist der Gefängnissituation geschuldet, in der wir hier im Osten lange Zeit auch geistig standen.



KNA: Haben Sie vor 20 Jahren damit gerechnet, dass sich der Prozess der Angleichung so lange hinziehen würde?

Wanke: Dass dies eine, zwei Generationen brauchen würde, das war mir bewusst. Doch wir haben eine gute Verfassung und insgesamt gute Voraussetzungen, so dass es auf Dauer gleichwertige Lebensverhältnisse geben wird, wie es zum Teil ja jetzt schon der Fall ist.



KNA: Was hat sich vor allem mit Blick auf die Kirche geändert?

Wanke: Wir haben nun all die Möglichkeiten, die eine offene Gesellschaft der Kirche bietet. Gefreut hat mich auch, dass viele Frauen und Männer aus unseren Gemeinden bereit waren, sich in politische Ämter wählen zu lassen. Das zeigte mir, dass ihre Erfahrungen in der Kirche sie auch während der DDR-Zeit so in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt haben, dass sie anschließend den Wandel mitgestalten konnten.



KNA: Warum kam es nach dem Ende der DDR nicht zu einer stärkeren Rückkehr der Ostdeutschen in die Kirchen?

Wanke: Wir haben eine Entfremdung von kirchlicher Praxis, einen weltlichen Humanismus, der längst vor der Zeit der DDR begann. Von daher war es unrealistisch zu meinen, dass die Menschen jetzt in Scharen wieder zu einer christlichen Frömmigkeit zurückfinden. Die Kirchen gehen auf eine neue Situation zu. Aus ihrem religiösen Erbe müssen sie neue Angebote schaffen, statt an rückwärtsgewandten Seelsorgestrategien festzuhalten. Notwendig sind Wege, die mit der Freiheit und den Wahlmöglichkeiten der Moderne nüchtern rechnen und sich dem Wettbewerb der Wertangebote und Grundüberzeugungen stellen.



Das Interview führte Gregor Krumpholz.