Heiner Geißler über das christliche Menschenbild und Erwartungen an die Union

"Die CDU hat nicht die Aufgabe, eine aufgeblasene FDP zu sein"

Heiner Geißler, ehemaliger Generalsekretär der CDU, befürchtet, seine Partei könne den Status als Volkspartei verlieren, falls sie nicht mehr die Politik des "kleinen Mannes" macht. Im domradio.de-Interview spricht Geißler über die christliche Nächstenliebe als unabdingbare Grundlage jeder Politik und seine Erwartungen an den Wertekongress der CDU.

 (DR)

domradio.de: Gibt es tatsächlich keine überzeugenden Figuren mehr für Sie in der CDU?

Geißler: In der CDU gibt es hervorragende Figuren, aber diejenigen, die jetzt dauernd das Konservative beschwören, haben gar keine Punkte, die sie vorweisen könnten. Konservativ und christlich ist ja gar nicht identisch. Die CDU ist gegründet worden, indem sie die konservativen, christlich-sozialen und die liberalen Grundströmungen aus der Weimarer Republik zusammengefasst hat. Daraus ist aber eine eigene Partei geworden, die christlichen Demokraten sind keine Konservativen, sondern sie sind christliche Demokraten, das ist etwas eigenes. Das ist etwas anderes als die Tory-Partei in England oder die Republikaner in den USA.



domradio.de: Was bedeutet für Sie konkret "christlich"? Ist das ein Leben nach dem christlichen Wertekatalog oder auch der Glauben an Jesus Christus?

Geißler: Was verstehen sie unter Wertekatalog? Man kann natürlich das Evangelium nicht unmittelbar in eine politische Handlungsanleitung umsetzen, das hat die CDU in ihrem ersten Grundsatzprogramm klar definiert, sonst wären wir ja christliche Ayatollahs. Aber der Glaube gibt uns ein Bild vom Menschen, das ist die Grundlage, das Fundament der Politik. Und über dieses Bild muss und kann man sich sehr gut unterhalten, denn es ist im Evangelium, in der Bergpredigt, klar gezeichnet: Die Würde eines jeden Menschen und zwar unabhängig davon, wo er geboren ist, welche Hautfarbe er hat, ist unantastbar. Ob Mann oder Frau, ob Deutscher oder Ausländer, ob arm oder reich, jung oder alt. Wenn Sie das zur Grundlage der Politik machen, dann hat das natürlich knallharte Konsequenzen. Der zweite Punkt des Evangeliums, die politische Dimension, ist natürlich die Nächstenliebe, und die ist genauso bedeutsam und hat denselben Wert wie die Gottesliebe. Das sagt Jesus eindeutig und klar, beide Gebote sind gleichwertig. Und wenn ich Politik machen will auf dem Boden des christlichen Menschenbildes, dann muss ich diese beiden Fundamente zur Grundlage meiner politischen Entscheidungen machen, und dann kann jeder selber sehen, inwieweit dieser Anspruch erfüllt wird oder nicht.



domradio.de: Sind die großen Vorstöße der Bundesregierung wie die Gesundheitsreform, die Einsparungen im sozialen Bereich oder auch jetzt die minimale Hartz IV-Erhöhung vereinbar mit ihren christlichen Wertvorstellungen?

Geißler: Nach meiner Auffassung ist das sehr kritikwürdig, denn die Nächstenliebe bedeutet nicht Gutmenschentum oder Gefühlsduselei, wie die Liberalen immer wieder versuchen, die Nächstenliebe lächerlich zu machen, sondern die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Das ist die Botschaft aus der Geschichte mit dem Samariter. Eine Verpflichtung, der sich die Christen nicht entziehen können, und das bedeutet natürlich, dass ich diejenigen, die in Not sind, nicht auch noch zusätzlich belaste, sondern diejenigen, die es können, die Geld haben, reich sind, die müssen beteiligt werden an der Aufgabe, denen zu helfen, denen es schlecht geht. Es muss also genau umgekehrt gemacht werden, als das was normalerweise immer aus wirtschaftsliberalen Positionen heraus verlangt wird, nämlich eine Einschränkung des Sozialstaats.



domradio.de: Der Göttinger Politologe Franz Walter hat kürzlich der CDU prophezeit, dass sie weiter schrumpfen werde, weil sie nicht innovativ genug ist. Sehen Sie das auch so?

Geißler: Die Gefahr besteht natürlich, dass die CDU den Charakter als Volkspartei verliert, wenn sie nicht mehr die Politik des kleinen Mannes macht, derjenigen die ihr Geld verdienen müssen, z.T. zu zweit, wenn sie verheiratet sind, weil das Einkommen eines Partners nicht mehr ausreicht. Die CDU hat nicht die Aufgabe, eine aufgeblasene FDP zu sein, die CDU ist immer eine Volkspartei gewesen, und aus diesem Grund muss z.B. unbedingt in dem Sparpaket, das jetzt verabschiedet wird, auch eine Beteiligung am Sparen von denen verlangt werden, die genügend Geld haben. Die CDU hat ja z.B. beschlossen, eine internationale Finanz-Transaktionssteuer zu erlassen, Gott sei Dank, endlich will man auch die Spekulanten an der Finanzierung der humanen allgemeinen Aufgaben beteiligen. Aber in dem Sparpaket selber ist das ja noch nicht realisierbar. Also muss man etwas über die Steuer machen, in dem man z.B. ab einem bestimmten Einkommen den Spitzensteuersatz erhöht. Man kann nicht den Hartz-IV-Empfängern 300 Euro wegnehmen, wenn sie Kinder haben, aber diejenigen die Geld haben, müssen gar keinen Beitrag leisten, das geht nicht.



domradio.de: Welche Erwartungen haben Sie an das Gespräch zwischen der Union und den Kirchenvertretern?

Geißler: Dass man sich weniger über Eherecht und Embryonenschutz unterhält und ähnliche Dinge, die ja immer wieder in den Vordergrund geschoben werden. Darüber kann man höchst unterschiedlicher Meinung sein. Sondern man sollte sich unterhalten über die Frage, was das Menschenbild bedeutet. Nämlich, dass man den Menschen nicht zum Kostenfaktor degradieren darf, dass er umso weniger gilt, je mehr er kostet! Dass nicht das Gesundheitswesen den Marktgesetzen preisgegeben wird, dass aus dem Patienten ein Kunde wird. Dass der Arzt im Krankenhaus zum Fallpauschalen-Jongleur wird, dass das Krankenhaus umgebaut wird zu einem an der Gewinnmaximierung orientierten Unternehmen. Das sind die Punkte, über die man reden muss, denn eine entsolidarisierte Gesellschaft ist natürlich das Gegenteil von dem, was das christliche Menschenbild von uns verlangt.