Der neue Leiter des Zentrums für Türkeistudium zu seinen Zielen und der verheerenden Wirkung der Sarrazin-Debatte

"Hanebüchene Ausagen"

Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung bemüht sich um Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen und eine gelungene Integration. Im domradio.de-Interview spricht der neue Leiter Prof. Haci-Halil Uslucan über seine Ziele und die neuesten Thesen Thilo Sarrazins.

 (DR)

domradio.de: Professor Uslucan, Sie haben soeben ihr Amt als wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien aufgenommen. Wie fühlen Sie sich mit der neuen Aufgabe?
Prof. Haci-Halil Uslucan: Es ist eine große Herausforderung. Ich habe mich zwar vorher schon als Professor der Psychologie Fragen der Integration, Migration auch im Kulturvergleich gewidmet. Aber das war eher im Kontext von spezifisch pädagogisch-psychologischen Fragestelllungen. Jetzt ist die Fragestellung deutlich weiter, sie hat unwillkürlich auch eine politische Dimension durch eine viel stärkere Sichtbarkeit sowohl des Instituts, als auch meiner Person, bekommen, beispielsweise jetzt auch durch Ihre Anfrage. Sich zu tagespolitischen, aktuellen Geschehen äußern zu müssen, das war etwas, was ich in meiner früheren Tätigkeit sowohl als Professor in Hamburg, aber auch in Potsdam und Wien deutlich stärker fokussiert auf wissenschaftliche Fragestellungen getan habe. Ich denke, dass da eine Erweiterung stattgefunden hat, die zunächst interessant und auch herausfordernd ist.

domradio.de: Sie sprechen von Erweiterung. Das Zentrum heißt jetzt Zentrum für Türkeistudien und auch Integrationsforschung; das Letztere ist neu. Warum ist das so?
Prof. Haci-Halil Uslucan: Ich denke, das Letzte soll ja auch eines signalisieren: Die Fokussierung nur auf Türkei, Türkeistudien, Türken ergibt ja ein verzerrtes Bild, so als ob nur Türken Gegenstand von Integration, Integrationsfragen wären. Wir - ich in meinem neuen Amt und auch meine Mitarbeiter - wollen diesen Blick auch auf andere ethnische, soziale Gruppen, andere Minderheiten in Deutschland erweitern, beispielsweise auf arabischstämmige Menschen und auch Aussiedler, um ein Stück weit eine komparatistische Sicht auf die Dinge zu haben. Das heißt, wir schauen, wie und unter welchen Bedingungen gelingen Integrationsleistungen anderer Gruppen - der türkischen, der arabischen, der russischsprachigen usw. - besser oder schlechter, wo sind Stellschrauben, die man anders justieren müsste, um Verbesserungen, Veränderungen einzuleiten. Und das gelingt viel eher, wenn man Startbedingungen, Ausstattungen, Ressourcen verschiedener Gruppen miteinander in Vergleich setzt.

domradio.de: Das heißt, Sie liefern konkret wissenschaftliche Untersuchungen. Das ist die Aufgabe ihres Institutes?
Prof. Haci-Halil Uslucan: Im weitesten Sinne wissenschaftliche Untersuchungen, aber natürlich bearbeiten wir auch Projekte von Auftraggebern zu bestimmten Fragestellungen, beispielsweise zum Mediennutzungsverhalten oder zur Unternehmensgründung und so weiter. Eine Studie in Auftrag zu geben ist ja im weiteren Sinne eher eine sozialwissenschaftliche Angelegenheit - Studien zu Fragen von Migration, von Integration. Natürlich haben wir eine Expertise bei den türkischen Migranten und überhaupt der türkischen Population. Aber angedacht und avisiert ist auch, dass viel stärker auszuweiten.

domradio.de: Im Moment schlagen ja die Aussagen des Vorstandes der Bundesbank, Thilo Sarrazin, und vor allem sein neues Buch Wellen der Empörung. Fühlen Sie sich davon betroffen?
Prof. Haci-Halil Uslucan: Also, zunächst - ich habe das Buch noch nicht gelesen. Man kennt das jetzt nur aus medialen Darstellungen und fetzenweise aus dem Kontext herausgegriffen. Das muss man natürlich immer mitberücksichtigen, wenn man in irgendeiner Weise Stellung zu einem Thema nimmt. Aber bei den Fetzen, die ich wahrgenommen habe, da muss man zwei Aspekte berücksichtigen. Das eine ist - vielleicht hat Thilo Sarrazin vielleicht einfach nur öffentliche Aufmerksamkeit gewollt. Wir wissen, dass gegenwärtig neben Macht, Geld und Politik auch Aufmerksamkeit ein wichtiges Steuerungsmedium, eine wichtige Ressource ist. Die hat er bekommen.

Die andere Seite ist die inhaltiche Dimension. Und ich möchte mich viel mehr auf diese inhaltliche Dimension konzentrieren. Da glaube ich, dass vieles von dem, was er behauptet, inhaltlich einer empirischen Überprüfung so nicht standhält, schlichtweg falsch ist, wissenschaftlich nicht bestätigt werden kann. Beispielsweise seine Auffassungen zur Intelligenz, seine Auffassung zur Kinderzahl von Migranten, zur Bildungsunwilligkeit von Migranten. Dass Migranten eine sehr hohe Bildungsaspiration für ihre Kinder haben, dass sie wünschen, dass aus ihnen viel mehr wird als das, was sie selber mitbringen, ist etwas, das seit mehr als zwanzig Jahren in der empirischen Forschung dokumentiert ist. Die öffentliche Wahrnehmung ist vielfach: Die sind nicht interessiert an der Bildung ihrer Kinder. Das stimmt so nicht, das haben sowohl wir in eigenen Untersuchungen als auch andere Forscher widerlegt.

Seine Auffassungen zur Intelligenz sind einfach hanebüchend. Ich habe das in einem anderen Interview schon erwähnt: Intelligenz ist eines der besterforschten Konstrukte in der Psychologie. Da noch zu behaupten, fünfzig bis achtzig Prozent seien vererbt und das andere seien Umweltvariablen - in dieser Dichotomie ist das nicht mehr haltbar, das ist Gedankengut, das im neunzehnten Jahrhundert beginnt. Vielmehr ist Intelligenz und intelligentes, intellektuelles Verhalten eher eine Genom-Umwelt-Interaktion. Das heißt, genetische Vorgaben werden in bestimmten Umwelten aktiviert oder nicht aktiviert. En detail ließe sich da zeigen wie altvorgestern seine Äußerungen sind.

Aber worauf ich viel mehr hinausmöchte, ist: Sarrazin und andere, ähnlich gelagerte, Autoren, Denker, Politiker meinen ja, sie würden nur die Wirklichkeit abbilden, sie würden sozusagen nur das sagen, was  in der konkreten empirischen Wirklichkeit da sei. Und auch da muss man sagen: Wir haben ja keinen frischen, keinen unbelasteten Zugriff auf die Wirklichkeit. Es ist nicht so, dass Sprache nackt Wirklichkeit abbildet, sondern immer durch die Wahl der Begriffe, durch die Bezeichnungen auch konstruiert. Und da muss man ihm eines vorwerfen: durch eine sehr gehässige, eine sehr diffamierende Sprache wird genau so eine Wirklichkeit auch konstruiert. Es ist nicht so, dass das die Wirklichkeit ist und Sprache das sozusagen neutral eins zu eins wiedergibt. Das meine ich, und das müssten insbesondere Menschen wie er und andere Verantwortliche erkennen. Sie haben ja ein Stück weit durch das hohe Renommee und das hohe Amt, das sie bekleiden, eine "Ausstrahlwirkung" und können vielmehr auch soziale Normen mitgestalten, mitschaffen. Und wer solche von Feindseligkeit geprägten sozialen Normen schafft, der leistet einen Beitrag dazu, dass unser Denken übereinander, von Mehrheiten und Minderheiten, viel feindseliger, viel angespannter wird als beispielsweise eine Beschreibung. Ich bin nicht dagegen, dass man Schwierigkeiten aus dem Weg räumt, die Schwierigkeiten beschreibt, aber zugleich sollte man in der Sprachverwendung auch eine Perspektive haben, wie solche Schwierigkeiten durch gemeinsame Anstrengungen behoben werden könnten. Und das ist etwas, das ich bei Sarrazin nicht finde.