Jesuiten-Pater Mertes über seine Erwartungen an die Missbrauchs-Leitlinien

Aufklärungswillen für neues Vertrauen

Am Montag hat sich der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz in Würzburg auf die neuen Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im kirchlichen Bereich geeinigt. Die Leitlinien werden am Dienstag in Trier vorgestellt. Jesuiten-Pater Klaus Mertes formuliert im domradio.de-Interview seine Erwartungen.

 (DR)

domradio.de: Pater Mertes, Sie hatten ja sozusagen als Rektor des Canisius Collegs in Berlin als erster die Missbrauchsfälle, die es in der Vergangenheit am Canisius Colleg gegeben hatte, öffentlich gemacht und damit diese Lawine ins Rollen gebracht. Aus Ihrer Erfahrung die Sie bisher in Sachen Aufarbeitung sexuellen Missbrauches gemacht haben, was müsste in den neuen Leitlinien auf jeden Fall berücksichtigt werden?
Klaus Mertes: Das schwierigste und wichtigste Thema, das hier berücksichtigt werden muss, ist die Frage des Verfahrens - wie gehe ich vor, wenn ein Opfer zu mir spricht. Weil die Institution auf der einen Seite natürlich dem Opfer mit Vertrauen entgegenkommen muss, um es überhaupt anzuhören. Auf der anderen Seite kommt die Institution natürlich in ein tiefes inneres Dilemma in Bezug auf die Fürsorgepflicht, die es gegenüber dem bezichtigten Priester oder Lehrer oder wem auch immer hat. Und an der Stelle stellt sich eben die Frage: Wer erfährt was, gibt es einen geschützten Vertrauensraum, und in welchen Fällen gibt es dann doch Anzeigepflichten gegenüber der Staatsanwaltschaft? An welchen Stellen gibt es aber auch Schweigerechte, um das Opfer gegenüber der Öffentlichkeit zu schützen? Das sind ganz wichtige und zentrale Fragen, die geklärt werden müssen.

domradio.de: Genau diese Anzeigepflicht ist ja auch innerhalb der Bischofs-Konferenz heftig diskutiert worden. Soll es sie geben, soll sie bestehen oder nicht? Also, ob jeder Missbrauchsfall immer der Staatsanwaltschaft gemeldet wird. Was ist ihre Meinung in dieser Frage?
Klaus Mertes: Ich bin skeptisch gegenüber einem Automatismus in der Meldepflicht, vor allem schon bei jedem Verdachtsfall. Und zwar deswegen, weil es Risiken der Re-Traumatisierung bei dem Opfer impliziert, weil Opfer manchmal gar nicht reden, wenn sie wissen, dass es an die Öffentlichkeit geht. Und weil die Staatsanwaltschaft ihrerseits natürlich auch sehr schnell an die Öffentlichkeit geht und damit dann das Opfer sehr schnell in eine Situation hineinbringt, in der es einem Druck ausgesetzt ist, dem es gar nicht widerstehen kann und dann die Aussage wieder zurückzieht etc. Das sind ja alles Erfahrungen, die Opfer mit der Staatsanwaltschaft gemacht haben. Die Staatsanwaltschaft ist eben keine Opferschutzorganisation und insofern muss die Frage danach, wie und in welcher Form die Staatsanwaltschaft informiert wird, vom Interesse des Opferschutzes her beantwortet werden.

domradio.de: Das heißt also, wenn es nicht an die Staatsanwaltschaft geht, kann man sozusagen innerkirchlich pfleglicher damit umgehen?
Klaus Mertes: Es geht nicht um den innerkirchlichen pfleglichen Umgang, sondern es geht zunächst einmal darum, ein Vertrauen zu schaffen, damit ein Opfer überhaupt sprechen kann. Wenn ich mich aber nur als Briefkasten in die Öffentlichkeit hinein begreife - und Staatsanwaltschaft ist ja Öffentlichkeit - dann redet das Opfer erst gar nicht. Das ist der Punkt.

domradio.de: Wenn wir die konkreten Maßnahmen anschauen, die in diesen Leitlinien bezüglich Prävention präzisiert werden müssen, was würden Sie sich da wünschen?
Klaus Mertes: Bezüglich der Prävention würde ich mir viel wünschen. Es gibt sicherlich einige finanzielle Fragen, die ganz konkret in den Institutionen geklärt werden müssen, um einfach Spielraum für die Arbeit, die das bedeutet, zu schaffen. Also Fortbildungsmaßnahmen, Freiraum für Lehrer und Lehrerinnen. Ich rede jetzt aus der Perspektive der Schule. Was ich aber noch wichtiger finde als die Prävention von Missbrauchstaten, ist die Prävention gegenüber dem Weghören für den Fall, dass Missbrauchstaten von Opfern in der Institution gemeldet werden. Das scheint mir die noch schwierigere Frage zu sein. Also die zentrale Frage ist: Was müssen wir bei uns ändern, um besser zuhören zu können, wenn Opfer von Missbrauch sich in der Institution melden? Denn das ist ja die Erfahrung, die viele Opfer gemacht haben - dass sie, als sie sich gemeldet haben, nicht gehört wurden. Und die zentrale Frage zur Prävention scheint mir zu sein: was hilft zur Sensibilisierung beim Hinhören?

domradio.de: Und dazu könnte in den Leitlinien auch etwas drinstehen?
Klaus Mertes: Dazu könnte etwas in den Leitlinien stehen. Ich denke, das berührt aber auch tiefere Fragen des kirchlichen Selbstverständnisses. Also, wie gehen wir auch in unserem öffentlichen Sprechen innerhalb der Institution mit den großen Fragen Macht und Sexualität um? Das scheint mir eine Präventionsfrage zu sein.

domradio.de: Ein weiteres Thema ist ja immer wieder die Frage nach der Entschädigung der Opfer. Das Kloster Ettal hat just heute einen Fond eingerichtet für unmittelbare Hilfen für die Opfer. Wie das allgemein weitergeht, ob es Seiten der Bischöfe auch Entschädigungen geben wird, wird beraten. Erwarten Sie solch eine Entschädigung, und wie kann die aussehen?
Klaus Mertes: Es steht mir nicht zu, etwas zu erwarten, ich habe einfach nur eigene Überlegungen zu dem Thema; und da würde ich sagen: Hilfe selbstverständlich, ja, das ist auch ein Teil der Entschädigung. Aber es gibt viele Opfer, die jetzt keine Hilfe mehr brauchen, weil sie sich schon selbst geholfen haben, die aber trotzdem Entschädigungen verlangen, und da ist die Frage: Worin könnte hier Entschädigung bestehen? Ich ziehe den Begriff der Genugtuung vor und meine, dass es so etwas geben sollte wie eine symbolische Genugtuungsleistung in Form eines irgendwie gearteten pauschalen Betrages. Also ähnlich wie Kardinal Schönborn in Wien das vorgeschlagen hat. Oder entsprechend dem Institut mutatis mutandis, wie das bei der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung eingeführt worden ist. Das ist dann eine symbolische Entschädigung, die nicht den realen Schaden wettmachen kann, die aber - systemisch gesprochen - von der Täterseite her ein Schritt auf die Opferseite zu ist, der über die bloße Entschuldigung hinausgeht. Das ist der Punkt, um den es geht, und der wird ja auch von Seiten der Opfer erwartet, jedenfalls von einigen.

domradio.de: Jetzt wird viel gesprochen, es wird auch versucht, etwas in dieser Geschichte sexueller Missbrauch zu tun. Die Kirche hat natürlich durch all dies in den letzten Monaten einen großen Vertrauensverlust erfahren. Was kann sie denn nun überhaupt tun, um aus dieser Glaubwürdigkeitskrise wieder heraus zu kommen?
Klaus Mertes: Sich nicht zu sehr mit der Frage der Glaubwürdigkeitskrise beschäftigen, sondern sich fragen: Wie können wir in einen Versöhnungsprozess mit den Opfern eintreten? Mehr Sorgen als der Verlust der Glaubwürdigkeit macht mir die Sorge um den Verlust der Glaubwürdigkeit, wenn ich es mal so paradox ausdrücken darf. Mit der Sorge um Glaubwürdigkeit gewinnt man keine Glaubwürdigkeit. Im Übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass, je klarer der Aufklärungswillen und die Bereitschaft, sich auf den Versöhnungsprozess mit Opfern einzulassen, ist, desto stärker ist das Vertrauen, das man gewinnt. Das heißt, wir sehen natürlich einen Vertrauensverlust, aber es gibt auch einen Vertrauensgewinn in den letzten Monaten, der sich gar nicht so lautstark zu Wort meldet. Und im Übrigen glaube ich, dass bei vielen der Austritte, die jetzt sichtbar geworden sind, der Missbrauchsskandal nur der letzte Tropfen war, der ein Fass zum Überlaufen gebracht hat, das schon jahrelang vorher gefüllt war. Insofern finde ich auch eine einseitige Reduzierung des Vertrauensverlustes auf den Missbrauchsskandal zu kurz gegriffen. Meine Erfahrung ist jedenfalls: In dem Moment, wo Offenheit und Versöhnungswillen da sind, die Bereitschaft, bittere Wahrheiten über sich selbst auch anzuerkennen und Reaktionen daraus folgen zu lassen, Vertrauen zurückgewonnen wird. Ich habe in den letzten Monaten ganz viel Vertrauenszuwachs erlebt.